Redewendungen klingen nach viel mehr als einer simplen funktionalen Sacherwiderung. Sie lassen etwas offen. Da man nie genau die ganze Bedeutung ermessen kann und eine diffuse Bedeutungsschicht den redewendenden Halbsatz umgibt, wirken Redewendungen tendenziell spannend und das Gespräch belebend.
Hochstapler-Redewendung: Es ist nicht alles Gold, was glänzt
Gerade die wörtliche Rede enthält oftmals Redewendungen als Mittel der vertiefenden Standardaussage. Die Gesamtheit aller Redewendungen einer Sprache sagt viel über deren kulturellen Hintergrund aus, da Redewendungen oft alt sind, manchmal Jahrhunderte alt. Es sind tradierte Merksätze, die gelernt und also Konsens geworden sind. Im Laufe dieser Zeit, verliert sich oft die eigentliche Bedeutung. Das Griffige, fast Melodiehafte der Redewendung hat sich aber im kollektiven Bewusstsein festgesetzt und wird umgedeutet und weiter verwendet.
Mahlzeit: „Wer zuerst kommt…“
Der ursprüngliche Sinn des Sprichwortes „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ beispielsweise ist in den Hintergrund getreten. Kein Wunder: Er stammt aus dem 13. Jahrhundert. Damals ging es darum, dass sich beim Kornmahlen in der Mühle niemand vordrängeln sollte, weil er etwas Besseres war. Damit sollte das Prinzip „Wer zuerst kommt, kommt auch zuerst dran“, bezogen auf die Tätigkeit des Mahlens, formuliert werden. Der historische Zusammenhang ist weg, das Prinzipielle der Grundaussage ist jedoch geblieben – auch, wenn viele nicht mehr wissen, ob es um’s „Malen“ oder um’s „Mahlen“ geht.
Von der Not zur Tugend: „Nicht wirklich“ kommt von „really not“
Redewendungen Können deshalb auch geschmeidig integraler Bestandteil von Smalltalk sein. Sie laufen dabei allerdings Gefahr, zur bloßen Floskel zu verkommen. Erwiderte man früher auf eine Frage wie zum Beispiel „Findest du das gut?“ ein einfaches „Nein“, hört man heute immer öfter „Nicht wirklich.“ Dabei ist die Bedeutung der Modephrase „Nicht wirklich“ komplexer als das bloße Funktionswort „Nein“, denn sie enthält zudem eine augenzwinkernde Wertung – im postmodernistischen Zeitalter gang und gäbe. Nicht wirklich stammt wohl aus der nicht wirklich zutreffenden Übersetzung des englischen „not really“, vielleicht aus einem synchronisierten Film. Das jedoch hätte man wohl eher mit „wirklich nicht“, „echt nicht“ oder „eigentlich nicht“ übersetzt.
Die Redewendung als Worthülse
Umgangssprachlich totgeredet, kann der Bedeutungsgehalt einer Redewendung von der Vielschichtigkeit in die eindimensionale Bedeutungslosigkeit abrutschen. Denn das ist das Problem mit den Redewendungen, die man ohne nachzudenken sofort parat hat: Sie passen in einer Gesprächssituation manchmal nicht. „Nicht wirklich“ bedeutet dann wenig mehr als „Nein“, wenn man eigentlich nur verneinen aber anstatt dessen etwas Flotteres oder Zeitgemäßeres sagen wollte. Vielleicht aber sollte es im Gegenteil „eigentlich ja“ heißen. Vorstellbar sind hier Konversationen, die von Redewendungen und modischen Phrasen dominiert werden und in denen praktisch nichts ausgesagt wird.
Ein Kind der linguistischen Kollokation
Eine Redewendung ist ein Sonderfall der sogenannten Kollokation, die in der Linguistik Worte bezeichnet, die zusammen gehäuft auftreten und zueinander gehören. Redewendungen sind so gesehen ein aus mehreren Worten oder Begriffen zusammengesetztes Sprachmodul und bilden damit ein sprachliches Fundament, das Sicherheit in der Kommunikation gibt, weil es schnell funktioniert. Wenn ich verinnerlicht habe, dass der Hund immer bellt, Schwarz mit Weiß zur entsprechenden Malerei gehört oder Katzen kratzen, dann muss ich nicht lange nachdenken, wenn ich etwas sagen oder erwidern möchte. Das ganze funktioniert wie ein Automatismus.
Deutsche Sprache, schwere Sprache
Unter anderem deshalb haben es Migranten, die zunächst einzelne Worte lernen, so schwer, ins Deutsche zu finden: Man muss schnell ein Gespür dafür entwickeln, welches Wort zu welchem gehört und mit ihm harmoniert, um dann die Redewendungen zu lernen – und schon kann man sich wirklich viel besser verständigen. Ohne Redewendungen geht es halt nicht wirklich bzw. eigentlich nicht.
„Nicht wirklich“ als Hintertür
Doch die Wendung „Nicht wirklich“ hat noch eine weitere Dimension, nämlich eine kleine Hintertür. Klar ist, dass „Nicht wirklich“ eine indirekte Antwort ist. Anstatt klar nein zu sagen oder eine Aussage zu machen, die eindeutig ablehnend wirkt, drückt „Nicht wirklich“ eine schwebende Ambivalenz aus. Nochmal zu der eingangs formulierten Frage „Findest du das gut?“ Ein Nein oder Ich finde das gar nicht gut, wäre die eindeutige Antwortsvariante. Bei „Nicht wirklich“ lasse ich offen, wie sehr ich es nicht gut finde und ich lasse einen Grund vermuten, der nicht eindeutig und damit ambivalent sein kann. Es kann aber auch sein, dass ich es im Grunde doch gut finde, es aber etwas gibt, was dagegen spricht. Das klingt nach einem Spannungsverhältnis zwischen Eindeutigkeit und postmodernem Augenzwinkern, hinter dem aber etwas anderes stecken könnte.
Klare Meinung oder unklare Gedanken
In jedem Fall aber klingt „Nicht wirklich“ viel spannender und geheimnisvoller als ein „Ja“ oder ein „Nein“. „Ja“ oder „nein“ zu sagen setzt eine klare Haltung voraus, vielleicht auch Rückgrat. Und daran mag es manch einem in modernen Zeiten mangeln. Ein abfederndes „Nicht wirklich“, das alles und nichts bedeuten kann, kommt da gelegen.