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Internet-Märchen: Der geschenkte Schrei

Eine Frau mit wildem Blick.

In einem fernen Land hinter den höchsten Bergen lebte eine wunderschöne Prinzessin, die Hochzeit halten wollte. Die Prinzen des gesamten Erdkreises reisten zu ihr, auf dass sie erwählt würden. Ein buntes Treiben herrschte auf der Burg. Die Prinzen aller Herren Länder hatten sich versammelt. Keiner von ihnen hatte die Prinzessin bisher gesehen. Sie hatten monatelange Strapazen auf sich genommen, um in das Land zu reisen, von deren Prinzessin man sagte, sie sei die schönste und klugste.

Es war ein dunkler Wintermorgen, der an diesem Tag die letzten Ankömmlinge begrüßt hatte. Die Schar der Prinzen, die schon anwesend waren und nun erwachten, wurden vom hellen Sonnenlicht überrascht. So hell strahlte dieses Licht von einem Moment auf den anderen, das keiner die Augen öffnen konnte und alle geblendet waren. Doch nach kurzer Zeit war das Licht genauso schnell vergangen, wie es gekommen war. Die Prinzen erschraken und fragten leise, was dies gewesen sei, welche Sonne so hell strahlen konnte, um sodann wieder zu verschwinden. Ein Diener sagte: „Das war die Prinzessin!“

Die Prinzen waren ungeduldig. Die Neugier auf die Prinzessin steigerte sich in den nächsten Tagen und Wochen ins Unermessliche. Aber die Prinzessin ließ sie warten. Nach den ersten Monaten reisten die ersten Prinzen resigniert und verärgert ab. 12 Monate gingen ins Land und die Prinzessin hatte sich immer noch nicht gezeigt. Es waren nur ein Handvoll Prinzen geblieben, diese aber, so schien es, hätten bis zu ihrem Lebensende gewartet, so sehr wünschten sie der Prinzessin, über die allerlei geheimnisvolle Geschichten zu vernehmen war, angesichtig zu werden.

Als die Prinzessin durch einen Spalt ihres geschlossenen Fensters auf diese Prinzen blickte, entschied sie, sie nun endlich zu empfangen. Es wurde ein Festbankett ausgerichtet. Zum ersten Mal konnten die gespannten Prinzen die Prinzessin sehen und waren nicht enttäuscht. Sie nahmen an einem Tisch Platz, an dem nur sie und die Prinzessin saßen und hatten nun Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Jeder der Prinzen durfte eine Frage an sie richten, die sie jeweils stumm zur Kenntnis nahm. Es hatte geheißen, dass sie nur einmal reden und aber allen antworten würde. Nun musste man wissen, dass die verbliebenen Prinzen aus aller Herren Länder angereißt waren und die seltensten Sprachen sprachen, kaum, dass sie sich untereinander verstanden.

Einer wollte den anderen überbieten, eine Frage wirkte geistreicher als die andere. Und die Prinzessin saß reglos aber interessiert da, hörte sich die Frage an und gab durch ein Nicken das Zeichen, dass der nächste reden möge. So verbrachten sie ein paar seltsame Stunden, in denen die Prinzen, einer nach dem anderen weit ausholende Fragen stellten und von sich und ihrem Königreich erzählten und die Prinzessin schweigend aber höchst aufmerksam zuhörte. Als die Reihe an dem Prinzen war, der zuletzt und am weitesten angereist war und aus einem Land kam, das niemand kannte, hörte die Prinzessin nur ein beredsames Schweigen. Weder stellte er eine Frage noch erzählte er eine amüsante oder interessante Geschichte. Er sah sie nur ruhig und ebenso aufmerksam wie sie an, schwieg und verzichtete darauf, eine Frage zu stellen.

Ein Diener trat vor, hieß alle Anwesenden des Festes zu schweigen und verkündete, dass die Prinzessin nun antworten werde. Die Prinzessin erhob sich, öffnete den Mund und sprach mit einer Vielzahl von Sprachen. Sie antwortete in einem Crescendo von Lauten und Stimmen allen Prinzen in allen ihren Sprachen gleichzeitig. So gewaltig war dieser Strom an Antworten und erwiderten Geschichten, so laut und unaushaltbar wie das Sonnenlicht, dass sich die Prinzen mit vom Wahnsinn entstellten Gesichtern die Ohren zuhalten und davonlaufen mussten. Sie eilten in ihre Gemächer, ließen so schnell wie möglich packen, enteilten und waren nie wieder gesehen.

Nur der letzte Prinz war geblieben. Er hatte sich vor der Prinzessin erhoben, hatte die Wachspropfen, mit denen er seine Ohren verschlossen hatte, entfernt und sprach zu ihr mit ausgesuchter Höflichkeit und festem Blick: „Wenn du möchtest, dass ich dich verstehe, musst du mit einer Stimme sprechen“. Er Griff in die Tasche seines Umhangs und überreichte ihr ein Pergament. Sie entrollte es und begann zu lesen: „In einem fernen Land hinter den höchsten Bergen lebte eine wunderschöne Prinzessin, die Hochzeit halten wollte…“

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