Der Mann ist alt und stopplig. Er hat einen starken Bartwuchs. Ein Großteil des Gesichtes ist mit etwa sieben Millimeter langen weißen Stoppeln übersät. Der Krebs hat sich mittig im Gesicht platziert. Er hat die Nase und das rechteAuge von innen heraus zur Seite gedrückt.
Ich stelle mir das Gesicht als eine Schüssel mit einer zähen Flüssigkeit vor, in der zwei Augen, eine Nase, zweiLippen und eine Menge Bartstoppeln schwimmen. Tief unten, in der Flüssigkeit sind plötzlich mehrere dumpfe Töne vernehmbar, so als klopfte jemand an eine verborgene Tür. Durch die milchige Flüssigkeit sehe ich die Andeutung einer runden Luke, wie bei einem U-Boot, die jetzt aufschwingt. Der Krebs kommt heraus, schwimmt lässig und ohne Eile nach oben. Er gibt der Nase mit einem Bein locker einen Stoß. Sie wird dadurch ein bisschen zur Seite gebogen. Dann tritt er das rechte Auge mit dem anderen Bein. Es wird weggeschleudert. Er macht es sich wie selbstverständlich in der Mitte des Gesichts gemütlich und beginnt, sich mit ausgebreiteten Armen unmerklich zu drehen. Es entsteht eine Art Wirbel, der alle Teile des Gesichts erfasst. Die Position der Augen, der Nase, des Mundes hat sich im Laufe des Jahres kreisförmig verschoben als wirkte eine beängstigende Fliehkraft. Ursprünglich grade Falten werden dadurch verbogen. Eine aberwitzig-konzentrische Drehbewegung erfasst die Physignomie vom Zentrum weg. Francis Bacon.
Die Pflegerinnen haben alle Spiegel aus dem Zimmer genommen. Der Mann sitzt im Stuhl, kann nicht aufstehen. Er wird nicht jeden Tag rasiert, weil das zu umständlich und schmerzhaft für ihn wäre. Er ist drahtig, muss mal ein Frauentyp gewesen sein, ein bisschen hat er was von Humphrey Bogart. Markant-männliche Falten. Er wirkt, als habe er abgeschlossen, ist dankbar für alles. Vielleicht einer der seltenen Momente im Leben, in dem ich wirklich was zu bieten habe. Denn ich kann meine Finger ruhig und geduldig bewegen. Mein Leben lang habe ich mit diesen Fingern gezeichnet und viele sehr kleine Dinge aus Papier ausgeschnitten, um Design-Entwürfe zu visualisieren oder beim Modellbau fiktive Räume entstehen zu lassen. Meine Aufgabe hier ist es, ihn zu rasieren. Eine Sache der Psychologie: Er weiß, dass es äußerst schwierig ist, ihn mit diesem Gesicht überhaupt noch zu rasieren. Er denkt, es sei eine Zumutung für mich. Stelle mir die Schwestern vor, wie sie ihn grob und laut in der Wir-Form sprechend rasieren, an ihm vorbei gucken und ihn dabei gar nicht richtig wahrnehmen.
Schwierig ist es einmal wegen der vielen Furchen und der wunden Stelle. Zum anderen wegen des Anblicks. Dabei ist es mir völlig egal. Ich sehe die Hässlichkeit gar nicht. Er will mir nichts stehlen von meiner Zeit, die ich doch tatsächlich im Überfluss habe. Ich will keiner seiner Erwartungshaltungen entsprechen. Ich nehme mir doppelt soviel Zeit, wie ich für die langsamste Rasur der Welt bräuchte. Ich bewege den Rasierer fast so, als würde ich mit einem Pinsel ein Bild malen. Ich blicke ihn unverwandt an und zeige ihm ohne Anstrengung, Verkrümmung oder Schauspiel, dass die Situation selbstverständlich ist. Ich komme dem Krebs ganz nahe, fasse sein Gesicht die Rasur unterstützend auch mal mit der Hand an. Dabei bin ich so zärtlich wie es nur geht. Er redet kein Wort. Ich sage hier und da etwas wie „so“ oder „ok, die Seite haben wir gleich“.
Ich bin eilfertig und zuvorkommend. Aber ich empfinde nichts Negatives, keine Berührungsangst, kein Mitleid, kein Ausweichen vor dem Tod, dem ich doch bisher immer gerne davongelaufen bin, wenn er sich mir zeigen wollte. Der Krebs ist jetzt Teil dieses Menschen. Der alte Mann wirkt auf mich, als habe er sich damit abgefunden, dass die Geschwulst wie ein surreales Zeitlupenschwungrad sein Gesicht einer Art organischer Kontinentalverschiebung aussetzt. Auch ich habe mich an die Situation angepasst. Habe akzeptiert, dass neben dem Mann und einem Zimmergenossen, den ich nicht wahrnehme, weil er sich dauernd außerhalb meines Gesichtsfeldes bewegt, zwei Personen in diesem Zimmer leben: Der alte Mann und der Krebs. Der Anblick des Mannes mag für viele beängstigend sein. Tage später werde ich lange zuhause in den Spiegel gucken und mir vorstellen, wie mein Gesicht wohl aussehen würde unter diesen Umständen.
Rasur beendet. Ganz glatt ging nicht. Später wird eine der Schwestern sagen, ich hätte es gut gemacht, hätte mir aber nicht so viel Mühe machen müssen. Die Dankbarkeit in seinen Augen. Weil ich bei ihm war. Weil ich mir die Zeit genommen habe. Weil ich keine Angst hatte. Tränenglitzern. Reflexion der Dankbarkeit. Aber er sagt nichts. Bin etwas gerührt. Wenn alles sehr schlimm ist und es keinen Ausweg mehr gibt, weil es vieles im Leben gibt, das eben nicht mehr gut wird, so sehr man sich das auch wünschen mag, dann werde ich seltsam gelassen, verschmelze mit dem Schrecken. Wer mit dem Schrecken schwingt, empfindet ihn nicht mehr. Der Schrecken verliert seine Macht, wenn Du sein Kumpel bist.
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