Philip K. Dick, längst verstorbener Autor der Romane, die als Buch-Vorlagen für Filme wie „BladeRunner“ oder „Minority Report“ dienten, und einer der berühmtesten Science Fiction-Pioniere, hatte ein Lieblingsthema: Schein-Welten. Vor allem Welten, bei denen man nie wissen kann, ob sie tatsächlich existieren oder nur imaginierte Traumgebilde sind, hatten es ihm angetan. Kein sehr weiter Weg zu Twitter, das eine neue Ebene in die reale Welt eingezogen hat und wie kein zweites soziales Netzwerk einen schwindelerregend schnellen Rhythmus in der Massen-Kommunikation etabliert hat.
Twitter ist im Nachrichten-Wettrennen immer der Erste. Vieles, was einen Tag später in den Zeitungen steht oder auf Webseiten veröffentlicht wurde, konnte man vorher in Kurzsatzform auf Twitter lesen.
Social Media mit Twitter: In 140 Zeichen um die Welt
Twitter ist, 2006 gegründet, ein junges Projekt. Es handelt sich um ein Micro-Blogging-System. Wo ab 1996 die Blogs als eine Art öffentliche Tagebücher entstanden waren, oft aber in längeren Texten oder aber bildorientiert, ist Twitter die Kunst der Beschränkung – deshalb „Micro“-Blogging. Jeder Beitrag darf wie bei der ursprünglichen SMS nicht länger als 140 Zeichen sein. Was symbolisch die „72 dpi“ waren, nämlich das Minimum und zugleich der Standard an Bildschrirm-Auflösung, sind heute die 140 Zeichen als verbales Sprungbrett, um in der Welt des World Wide Web, etwas zu äußern. Wo früher das Internet unendlich schien und alles in jeder Länge und jedem Medium übermittelt werden konnte, scheinen 140 Zeichen eine ungewöhnliche Beschränkung. Doch der Clou von Twitter liegt genau in dieser Reduktion: Wer nicht viel Sagen darf, sagt anstatt dessen öfter etwas – anstatt zu monologoisieren geht’s ans Dialogisieren. Das hatte bereits der SMS zum Siegeszug als neue, schnelle Kommunikations-Form verholfen. Twitter ist der permanente kommunikative Austausch, das ständige Zwitschern von Alltäglichem, von Trivialem oder Wichtigem, alles durcheinander, alles neben- und hintereinander – und die ganze Welt kann mitlesen. Da kann ein Twitterer kurz mitteilen, dass er Pommes holen geht und gleich wieder da ist, ein anderer nutzt den Kurznachrichten-Dienst, um aus einem Krisengebiet mitzuteilen, dass ein Krieg begonnen hat, und wieder ein anderer schreibt, dass er verschüttet unter Trümmern in einem Erdbebengebiet liegt. Das alles kann Twitter sein.
Twitter: Einfacher geht’s nicht mehr
Wenn man bedenkt, dass das Internet in für jeden nutzbarer Form als www-Word-Wide-Web erst seit 1993 so richtig begann zu existieren, ist das Erstarken einer technoiden Kommunikationsform wie Twitter an Rasanz kaum zu überbieten. Während der alte Blogger oft eine eigene Website betrieb, die ein bißchen kostete und für deren Aufbau einiges an Manpower zu investieren war, ist Twitter – auch im Gegensatz zu Facebook oder MySpace, bei denen Seiten einzurichten und teils unendlich viele Fragen zu beantworten sind – komplett fertig da: 5 Minuten Anmeldung und schon geht’s los. Man twittert, schreibt über das, was man erlebt oder worauf man hinweisen möchte, und interessiert andere Menschen für sich, seine Themen und Sichtweisen. Bei Facebook werden die Leser „Freunde“, bei Twitter „Follower“. Wie im wirklichen Leben gibt es Twitterer mit gewaltigen Fangemeinden – im Falle von Stars können das Millionen sein, die sich dafür interessieren, was die Celebrity gerade macht und von sich gibt. Das Erfolgsrezept dieser sozialen Netzwerke ist auch, dass sie mit dem realen Leben und den realen Menschen nicht viel zu tun haben müssen. Twitter repräsentiert nicht nur eine ultraschnelle Nachrichten-Taktung sondern auch eine andere Welt. Philip K. Dick hätte seine Freude daran gehabt – und hätte sich vermutlich gewundert, wie schnell er in seinen SCince-Fiction-Gedanken von der neuen Realität eingeholt worden ist.
Twitter: Kurz und knapp, schnell und ausdrucksstark
Das Spontane, das Schnelle und Kurze sind die ursprünglichen Markenzeichen dieses Dienstes, der ein Kernstück der sogenannten „Social Media“ ist, also eines der Medien, derer sich Menschen bedienen, um miteinander oft locker-witzig zu kommunizieren. „Microblogging-Plattform“ wird Twitter deshalb genannt, weil im Persönlichen, Privaten und in der individuell-subjektiven Sichtweise der Nukleus des Dienstes liegt. Inzwischen ist aus Twitter aber mehr geworden: Eine Art super-schnelldrehendes Inhaltsverzeichnis des gesamten Internet und vielleicht eines der vollständigsten Abbilder unserer Welt ansich. Dafür spricht auch, dass das Unternehmen Twitter offensichtlich dabei ist, seine Nutzerdaten zu vermarkten und damit Geld zu verdienen – und nicht primär über Werbung. Twitter, so sagt man, weiß was die Menschen der Welt denken – das wird der Werbebranche und den werbetreibenden Unternehmen sehr viel wert sein. Big brother is watching you!
Ein anderer Mensch in den sozialen Medien
Aber zurück zur Schein-Realität: Nicht nur, wer bei Facebook ist, schafft sich eine digitale Identität, eine Entsprechung, die teils krass von der wirklichen Existenz abweicht. Twitter und andere „soziale“ Plattformen bieten auch Versteckspiel-Möglichkeiten, bieten Raum für eine Traumwirklichkeit, die den Hartz IV-Empfänger auf Twitter zum schnieken Geschäftsmann werden läßt, die 60-Jährige zu „Tina24“ und den Rollstuhlfahrer zum Langstreckenläufer. Das ist komfortabel und schafft viel Platz für neue Gedanken, neue Ideen und neue Realitäten.
Neuer Push für soziale Netze durch mobile Anwendungen
Schon lange kann man seinen Text-Kurznachrichten, den sogenannten „Tweets“, Bilder beifügen – dies über einen Dienst wie „Twitpic“ – und es ist ebenso möglich, Videos oder Audio-Dateien hochzuladen. Der Clou der „Sozialen Netzwerke“, ob sie durch Twitter, durch Facebook, Xing, Studi- bzw. Schüler-VZ oder MySpace repräsentiert sind, ist die Mobilität. Vor kurzem noch schien das Ende der Fahnenstange im Handymarkt erreicht. Dann kam Apple’s „iPhone“ und revolutionierte den Markt hin zum „Smartphone“, jenem Allround-Computer im Westentaschenformat, mittels dessen man Tweets praktisch von überall, zu jeder Zeit mal eben so absetzen kann. Es gibt inzwischen zahllose kostenlose Apps, die das Smartphone zu einer vollwertigen Nachrichten-Zentrale werden lassen.
Wer erklärt Twitter strukturiert und übersichtlich?
Soweit im Allgemeinen zum Phänomen „Twitter“ als Social Media-Dienst. Zu twittern ist inzwischen fast eine Wissenschaft geworden. „Twitter“, das Unternehmen, hat sich zwischenzeitlich für diverse Zusatz-Dienste geöffnet und bietet komfortable Möglichkeiten zu kommunizieren und sich zu vernetzen. Hinzu kommt natürlich, dass das Twitterversum mit seinen Milliarden Kurznachrichten groß, facettenreich und unübersichtlich geworden ist. Wer blickt da noch durch? Und wer ist in der Lage, Twitter ebenso kurz und strukturiert zu erklären, wie es die Kernkompetenz des Dienstes selbst ist? Es muß wieder die Oldschool-Fraktion her, Buchschreiber, die in Büchern und auf Seiten, die man richtig umblättern kann, das Usability-Wunder Twitter nahe bringen.
Witzig: Odschool-Medium „Buch“ erklärt die kommunikative Avantgarde
Der Markt hält inzwischen einige Bücher zum Thema „Twitter“ bereit und einige zum Thema „Social Media“ mit Twitter als Untermenge. Social Media ist das Trendthema im Marketing geworden. Es gibt eine Flut an ausgewiesenen Experten, manchmal möchte man sogar meinen, es gibt mehr Experten als Nutzer. Die Gefahr der Autorenschaft im „Social Media“-Bereich liegt im Augenblick in einem verkappten Größenwahn, ist doch das Thema so durchdrungen von Hippness, weil die Medien- und Werbebranche drauf steht. Beflügelt wird diese Sichtweise, das Schicksal der Welt nur noch durch die rosarote Brille der sozialen Netzwerke zu sehen, von den Zocker-Phantasien der Börsen, die offenbar wieder die Bodenhaftung verlieren, wenn es um Werte wie Facebook oder Twitter geht – bis der nächste Hype zerplatzt und eine Lawine aus Börsianern mit sich reisst. Sachkunde und Know-how im HInblick auf Twitter sind also gefragt, um der Heilslehre der schönen neuen Social-Media-Welt zu wiederstehen und ihr Potenzial dennoch zu erkennen.
Schreiben über Twitter: Zwischen Überblick behalten und Praxisorientierung
Die meisten Bücher, die es bisher zum Thema gibt, widmen sich nicht explizit allein „Twitter“ sondern „Social Media“, stellen also „Twitter“ als Teil von „Social Media“ dar und berauben sich damit der Möglichkeit, der Faszination von Twitter tatsächlich nahe zu kommen. Entsprechend oberflächlich bleiben Beschreibung und Vertiefung der Anwendertipps. Einen Ratgeber über eine Form von Kommunikation zu schreiben, wie sie Twitter bietet, vollzieht sich zwischen dem großen Blick auf ein unübersichtliches Twitterversum, das nur durch eine verständliche und nachvollziehbare Struktur klar werden kann, und der Detailarbeit, wenn es darum geht, die vielen Aspekte des Dienstes herauszuarbeiten. Eine anspruchsvolle Arbeit, weil ein Zuviel an Informationen eine inhaltliche Struktur überfrachten und verschütten kann und ein Zuwenig nicht praxisorientiert genug ist.
Allgemein: „Das Social Media Marketing Buch“ von Dan Zarrella
Im August 2010 ist in deutscher Übersetzung „Das Social Media Marketing Buch“ von Dan Zarrella im O’Reilly-Verlag erschienen: Ein Buch im DIN A5-Querformat, mit prägnantem, bildorientiertem Layout, leider einspaltig über die Seitenbreite und damit schlecht lesbar gesetzt – und leider nicht sehr in die Tiefen der Twitter-Verästelungen eintauchend: Nur scheinbar umfassend wird schnell klar, dass für jemanden, der Twitter anwenden und verstehen will, lediglich ein Kapitel in einem „Social Media“-Buch nicht mehr als ein Überblick sein kann. Das Buch bietet einen ersten Überblick über das Phänomen „Social Media“, was aber nicht genug ist, um es kompetent anzuwenden.
Umfassend: „iknow Twitter“ von Barbara Ward
Offenbar gelernt vom Ansatz O’Reillys, das Thema zu präsentieren, hat der Data Becker-Verlag. Er legt ab heute in einer Ratgeber-Reihe das Buch „iknow Twitter“ von Barbara Ward vor, die auch schon bei Endoplast gepostet hat und in Deutschland Twitterin der ersten Stunde ist. Als eine der wenigen hat sie direkt mit dem Aufkommen des deutschsprachigen Twitter Accounts aufgebaut, die Geld verdient haben. Sie kommt damit aus der Praxis und kennt daher nicht nur theoretisch alle Tipps und Tricks, Twitter sinnvoll einzusetzen. Das Buch ist ebenfalls im DINA5-Querformat und sehr bildorientiert – wobei die Abbildungen nicht Zierrat sind, sondern informationell im Dienst des Textes stehen und ihn ergänzen. Die Schreibe ist flott und kurzweilig, die Wissensvermitlung umfassend und tiefgreifend, es wird kein Aspekt ausgelassen, um das Medium verstehen zu können und viele Spezial-Aspekte wie zum Beispiel Jobsuche per Twitter werden weitergehend ausgeleuchtet. Dabei ist der Clou des Buches seine redaktionelle Ausstattung: Die Fülle des Wissens wird in zahlreichen Screens mit ausführlichen Bildunterschriften, in hierarchisch gegliederten Infokästen und – im Gegensatz zu O’Reilly – in einem lesefreundlichen zweispaltigen Layout dargeboten. Es gibt kein Buch auf dem deutschen Markt, das das Thema derartig durchdringt und dabei anwendbar und praxisorientiert ist. Data Becker zieht alle Register eines redaktionell ambitioniert betreuten Buches, das nicht nur Einsteigern sondern auch alten Hasen Neues vermitteln kann und dabei Kurzweil bietet. Die Schreibe ist eine Mischung aus Reportage über das Leben zwischen seltsamen Tweet-Inhalten, aus Praxishandbuch und einer übersichtlichen Reise durch das vielschichtige Twitterversum, das einfach Spaß macht und eine selten gesehene Fülle an Informationen bietet. So gesehen die beste Werbung für Twitter, die man sich denken kann. Denn hier wird die Vielfalt der kommunikativen Möglichkeiten Twitters – ob bei der Jobsuche, beim Verbreiten skuriler Botschaften, politischer Statements oder Business-Informationen – umfassend dargestellt.
Stylish gestaltet: „Social Media“ von Thomas Pfeffer und Bastian Koch
Den ehrenwerte Platz für das anschaulichste Buch zum Thema Twitter hätte eigentlich auch das „Social Media. Wie Sie mit Twitter, Facebook und Co. Ihren Kunden näher kommen“ im Addison-Wesley-Verlag von Thomas Pfeffer und Bastian Koch belegen können, ist er doch von den Experten von „Twittwoch e.V.“ herausgegeben. Doch die weitestgehend unhierarchisierten 131 Fragen zum Thema erschweren die Übersichtlichkeit eher. Es ist für eine inhaltliche Durchdringung zwar ein interessantes Konzept, wesentliche Fragen zu stellen und diese zu beantworten, doch für die strukturelle Übersichtlichkeit bringt das gar nichts. Zumal das Thema „Social Media“ unter einem didaktischen Anspruch einfach ein zu großes Rad ist, das man drehen muß – hat man nicht eine wirklich gute Idee, das Thema redaktionell zu bearbeiten. Denn die fehlt bisher in den in Deutschland publizierten „Social Media“-Werken. Das ebenfalls querformatige Buch hat aber eines der modernsten und ansprechendsten Layouts, wenn auch die fette Typografie im Inhaltsverzeichnis die Orientierung eher erschwert. Für Leser, die bestimmte Fragen klären wollen, ohne das große Ganze im Blick halten zu müssen, aber unter Umständen ein kenntnisreiches Nachschlagewerk. „Social Media. Wie Sie mit Twitter, Facebook und Co. Ihren Kunden näher kommen“ ist ein Businessbuch, das zudem den Spaß am Medium etwas vermissen lässt. Was sollte man von einem Businessbuch aber auch anderes erwarten.
Grundlegend: „Twitter“ von Nicole Simon und Nikolaus Bernhardt
„Twitter. Mit 140 Zeichen zum Web 2.0“ von Nicole Simon, Nikolaus Bernhardt im Verlag Open Source Press ist in der 2. Auflage erschienen (die 1. bereits 2008!). Eines der wenigen hochformatigen Bücher und schon wirkt es gleich seriöser, weil weniger wie ein Praxishandbuch. Nicole Simon ist ebenfalls Twitterin der ersten Stunde. Das Werk ist ähnlich umfassend wie „iknowtwitter“, gut strukturiert, aber weniger zugänglich und emphatisch, die Schreibe ist weniger flott und macht weniger Spaß. Ein Manko auch hier deshalb, weil Twitter lange nicht nur eine Business-Plattform ist sondern ein sehr unterhaltsamer Markt-Platz der Ideen. Twitter wird hier aber umfassend, tiefgreifend und facettebreich dargestellt, mit zahlreichen interessanten Detailinformationen.
Zuletzt: „Das Twitter-Buch“ und „Facebook, Xing & Twitter“
Erwähnen sollte man noch „Das Twitter-Buch“ von Tim O’Reilly und Sarah Milstein im O’Reilly-Verlag, das aber hinter den Werken von Ward und Simon, was Vertiefungsgrad und Klarheit der Struktur anbelangt, zurückbleibt. Zum Abgewöhnen ist „Facebook, Xing & Twitter“ im Ullstein Taschenbuch-Verlag, herausgegeben von „Computer-Bild“: Unuebersichtliche, uninspirierte Gestaltung, Oberflächlichkeit der Darstellung und in allen Bereichen zu wenig Esprit.
Fazit: Alte und neue Medien Hand in Hand
So schließe ich diese Betrachtung mit der Erkenntnis, dass alte und neue Medien sich gegenseitig befruchten und beflügeln können und dass im schnellen Internet ein durchdachtes Buch, für das man sich zurücklehnen muß, um es zu lesen, durchaus eine willkommene Ergänzung sein kann. Ein Buch nimmt die Geschwindigkeit aus dem Wahrnehmungs-Prozess, weil es gedruckt wird und damit manifest ist, während jede Information im Internet und gerade auch bei Twitter nur vorläufigen Charakter hat. Allerdings ist auch zu spüren, dass es schwerer geworden ist, ein kenntnisreiches und wohl strukturiertes Buch zu schreiben, weil diese Eigenschafts-Kombination im Internet-Zeitalter inzwischen Seltenheitswert hat. Im Internet ist die Haupteigenschaft, Informationen zu strukturieren und zu präsentieren. Vollständigkeit wird durch Fragmentarismus und Vorläufigkeit ersetzt. Auch Visionär Philip K. Dick hätte an Twitter sicher seine Freude gehabt und zahlreiche Twitter-Accounts angelegt, bei denen er in unterschiedlichste Kunstfiguren geschlüpft wäre, um der Welt neue Geschichten zu erzählen. Sicher eine willkommene Ergänzung zu seinen Buchprojekten.