endoplast.de

Wikileaks und Julian Assange: Von verschlagenen Militärs, geheimniskrämerischer Politik und wahrheitsliebenden Hackern

Wikileaks sucht die Wahrheit und findet seinen verhafteten Gründer Julian Assange vor.

Schlagzeilen brauchen Gesichter. Das Showbusiness braucht Gesichter. Politik braucht Gesichter. Eigentlich braucht alles, was medial vermittelt werden will, früher oder später ein Gesicht. Dass das eine medienwirksame Erfordernis ist, an der man nicht so leicht vorbeikommt, hat das Rotationsprinzip von „Bündnis 90/Die Grünen“ gezeigt. Das mag ein vorbildliches demokratisches Arbeits- und Politik-Prinzip sein, aber um den Massen die grüne Politik zu veranschaulichen, hat es nicht so recht funktioniert. Die Medien wollen Köpfe, die zu Marken werden und bleiben – anstatt wegzurotieren.

Da waren Autokraten wie Josef Fischer oder ist die jetzige Führungsriege mit Renate Künast und Jürgen Trittin sehr erfolgreich im Bleiben. Mit Wikileaks ist das nicht anders: Im Augenblick, nach der Verhaftung von Gründer Julian Assange und den weltweiten Enthüllungen bezüglich des Afghanistan- und Irakkrieges und jüngst wegen der Veröffentlichung von diplomatischen Depeschen, stürzt sich alles auf den Mann, der der eigentlich anonymen Organisation ein Gesicht gegeben hat. Der „Focus“ fragt, ob Julian Assange noch ganz dicht ist, der „stern“ schickt gleich mehrere Journalisten-Teams in verschiedene Himmelsrichtungen, nach Australien, nach Island und nach Schweden, um den Wikileaks-Sprecher auszuforschen, um den Menschen hinter der Medienfigur zu offenbaren. Eine eherne journalistische Pflicht und Leistung, möchte man meinen.

Die Berichterstattung: Vor Klischees strotzend

Dabei wird mit den Klischees des Genies, des Geheimnisvollen, des Entwurzelten gearbeitet. Das nimmt zunächst Bezug darauf, dass Assange es von seiner Kindheit an gewohnt war, den Wohnort zu wechseln. Dutzende verschiedene Schulen soll er besucht haben. Später, zu Wikileaks-Zeiten, war er auch nur dauernd unterwegs, hat praktisch keinen festen Wohnsitz, keine Lebensmitte. Assange, der Weltbürger. Klingt auch nach einem Klischee. Wenn Gesichter die Währung der medialen Welt sind, dann sind Klischees der Schmierstoff für deren Medien-Eingängigkeit. Über das Zusammenzimmern vereinfachender Schubladen, simplifiziert man Realitäten und macht sie begreifbar. Aber was für ein Sinn steckt hinter einem Artikel, der seitenweise Weggefährten Assanges bei Wikileaks zitiert, die der Meinung sind, der große Meister sei der Eitelkeit und medialen Großmannssucht verfallen, stelle sich in den Mittelpunkt und über alle anderen bei Wikileaks, habe aus dem Projekt eine One-Man-Show gemacht – und andererseits tut so ein Artikel in einer großen deutschen Illustrierten genau das: Er macht aus dem Politikum Wikileaks eine poppig aufgeblasene Seifenoper. Da mag der journalistische Grundgedanke noch so ehrenwert sein, die Regeln der medialen Verzerrung greifen gnadenlos.

Imagetransfer: Der Mensch und seine Eigenschaften

Aber wie gesagt: Unsere mediale Wirklichkeit orientiert sich an Gesichtern. Das Wetter trägt das Antlitz Kachelmanns. Der King of Rock’n’Roll ist ein Babyface und der King of Pop wartete gleich mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gesichter auf – welch Graus und Faszinosum zugleich. Jetzt also Wikileaks: Ansich dunkle Stuben, Hinterzimmer, unscheinbare, wortkarge Hacker. Dann aber: Julian Assange, der in der Larry King-Zuschaltung beflissen den Talker direkt mit „Larry“ anspricht als wäre er, Julian Assange, vielleicht ein vertrauter Korrespondent des Anchormans. Julian, der Popstar. Seine Ex-Partner von Wikileaks sagen, dass man einfach nur kollektiv seine Arbeit machen sollte, ohne dass sich jemand in den Vordergrund drängen muß. Dass das gut klappt, sieht man an Twitter: Kennt irgendjemand deren Gründer? Nein, niemand, und der Dienst funktioniert wunderbar. Doch da sind andererseits Apple oder Microsoft oder Oracle. Sie alle haben Vorstandsvorsitzende, die ihrem Unternehmen ihr Gesicht geliehen haben. Gerade an Apple sieht man, wie so ein Imagetransfer, eine Übertragung von menschlichen Eigenschaften auf Produkte, laufen kann. Zu einer Zeit, als Microsoft der Monopolist im Bereich der Personal Computer geworden war – was die Verbreitung von Betriebssystem und die Anwendersoftware anbelangte – stilisierte sich Apple als die positive Gegenmacht. Microsoft, die Bösen, gegen Apple, die Guten. Aber Technik kann nicht gut sein, ein Mensch kann gut sein. Also war bei Apple von Anfang an der Traum vom Gutsein mit dem Revoluzzer Steve Jobs verbunden. Wer einen Apple-Computer gekauft hatte, erwarb ein Weltbild mit dazu. Das läuft besonders gut, wenn das, mit dem man sich identifizieren soll, im weitesten Sinne menschliche Züge trägt. Auch wenn das nur eine ganz einfache Fassade ist.

Mehr Treffer als Obama: 508.000.000 mal Wikileaks

„Fassade“ ist ein gutes Stichwort, um nach diesem Ausflug zu den marktgerechten und medial vermittelten Scheinwelten zurück zu Wikileaks zu kommen. Der Medienzirkus um Julian Assange hat davon abgelenkt, was Wikileaks an Neuem gebracht hat. Gibt man bei Google „Wikileaks“ als Suchbegriff ein, erhält man 508.000.000 Treffer, sucht man nach „Assange“ findet man immerhin 206.000.000, beim kompletten Namen „Julian Assange“ 119.000.000 Ergebnisse. Zum Vergleich: Suche ich nach dem (noch) mächtigsten Mann der Welt, „Barack Obama“ kommen 195.000.000 Such-Ergebnisse. Man sieht an diesen Zahlen, wie wichtig eine einzelne Person für Wikileaks geworden ist. Man muß aber auch sehen, dass ohne die Eitelkeit und Medienpräsenz Assanges all dies, was im zurückliegenden Jahr passiert ist, nicht zu so einem Medien-Ereignis geworden wäre, das Öffentlichkeit hergestellt und Diskussionen ausgelöst hat. Denn zu den Medien gehören mehrheitlich auch jene, denen politische Berichterstattung fremd ist. Durch Assange ist die Problematik der Verschleierung von Wahrheit bis in den letzten Winkel unserer Republik und der ganzen Welt gelangt – weil das abstrakte Wirken Wikileak’s durch das Antlitz seines Gründers handfest geworden ist, auch in der Boulevard-Berichterstattung.

„Embedded Journalists“ und die neue Kriegsberichterstattung

Wir blicken zurück, auf den Irakkrieg, den die USA unter Präsident George Bush begonnen hatten und noch weiter auf die Gewohnheiten des Militär-Apparates, Wahrheiten zu übertünchen. Seit es Kriege gibt, war den Militärs eine kritische Berichterstattung über Kriegs-Ereignisse ein Dorn im Auge. Die Schrecken des Krieges sollten nach Möglichkeit vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Das Militär bediente sich dazu traditionell vor allem der Zensur, konnte aber zum Beispiel im Vietnam-Krieg nicht verhindern, das brisantes Bildmaterial, von brennenden Kindern, die durch Napalm in Brand geraten waren, in die Zeitungen gelangten. In Zeiten, in denen der Film als Medium immer wichtiger für die öffentliche Meinung wurde, zeigte sich dann das Militär großzügig, wenn es um die Bereitstellung von Equipment wie Panzern oder Flugzeugen als Filmrequisiten ging. Dafür nahm es Einfluß auf die Drehbücher, um das eigene Wirken nach Möglichkeit zu glorifizieren. Filme wie das Flieger-Epos „Topgun“ führten unter solcher Einflußnahme dann auch dazu, dass sich die amerikanische Luftwaffe vor Bewerbern nicht mehr retten konnte. So schön und werbewirksam kann man dem männlichen Publikum ein blutiges Handwerk nahe bringen. Im Irak-Krieg war nun die Rede vom sogenannten „Embedded Journalist“. Das würde wörtlich übersetzt „eingebettet“ heißen, im Sinne des Militärs wohl eher „betreut und mit einbezogen“. Tatsächlich müßte man „embedded“ mit „kontrolliert“ übersetzen, weil „embbeded Journalists“ zwar die einzigen Medienvertreter waren, die einigermaßen nah an den Krieg heran durften, andererseits unter ständiger militärischer Beobachtung standen und im Hinblick darauf, was sie sehen durften und was nicht bzw. was sie schreiben durften und was nicht, gut zu kontrollieren waren. Das Militär hat in diesem Krieg nicht nur den Irak besetzt sondern dem Journalismus neben dem Teppich auch gleich den ganzen Boden unter den Füßen weggezogen. Der Journalismus im Irakkrieg hat letztlich, gerade was aussagekräftige Bilder anbelangt, weitesgehend versagt. Eine Situation, die der Journalismus ratlos hinnehmen mußte. Nicht nur die Kriegsführung war technologisch perfektioniert worden auch die Kontrolle über den Informationsfluß durch die Militärs. Erst Medien wie der Roman/Film „Jarhead“ konnten den Irrsinn des Krieges wieder adäquater darstellen.

Morden live: Das Wikileaks-„Collateral“-Video

Vor diesem Hintergrund ist das Collateral-Video aus April 2010 zu sehen, mit dessen Veröffentlichung die Enthüllungsplattform Wikileaks schlagartig bekannt geworden war. Zu sehen war aus der Perspektive eines amerikanischen Kampfhubschraubers, wie die vier Zivilisten grundlos, witzelnd und mit kaltem Kalkül ermordeten. Krieg als Videogame. Eine traumatische Medien-Erfahrung. Wikileaks hatte damit etwas geschafft, was die gesamte Weltpresse nicht zustande gebracht hatte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde die anonyme Enthüllungsplattform – und das kommt in der Berichterstattung über die Organisation zur Zeit zu kurz, weil die etablierten Medien es nicht gerne hören – die mit großem Abstand wichtigste und erfolgreichste nicht profitorientierte Nachrichtenagentur. „Nachrichtenagentur“ nicht im herkömmlichen Sinne, eher als Lieferant von heißen Informationen, an die man sonst nicht herankommt. Wikileaks wurde eine vielbesuchte Vertriebsplattform für brisante Informationen, die man anonym publizieren kann. Es folgten weitere Enthüllungen zum Irakkrieg, zu den Einsätzen in Afghanistan und jüngst zu dem, was hinter den Kulissen der Politik vor sich geht – dies in Form der Veröffentlichung von diplomatischem Schriftverkehr, in dem die amerikanische Diplomatie Einschätzungen aller möglichen Politiker und politischen Vorgänge verschriftlicht hatte. Die Sprache der Diplomatie nach außen hin ist geprägt von großer Umsicht und Verklausulierung. Sprich: Die Wahrheit wird geschönt. Entsprechend heftig fielen die Reaktionen aller Politiker rund um den Globus aus, als sie solchermaßen mit der „Diplomatensprache unplugged“ konfrontiert waren. Wikileaks war nötig geworden, weil die Verschleierung der Wirklichkeit durch Politik und Militär immer dreistere Formen angenommen hatte. Anhand der Weltwirtschaftskrise und der miserablen Rolle des Finanzwesens war konkret erfahrbar, wie gefährlich es sein kann, wenn einige Wenige hinter verschlossenen Türen ihr Ding machen. Da scheint eine Plattform im Internet ideal dafür zu sein, die Wahrheit wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu holen, auf dass die ihre Kontrollfunktion ausüben kann.

Ankauf von geklauten Daten: Kann denn Digitales Sünde sein?

Eine zweite entscheidende Wende, die Wikileaks gebracht hat, wird ebenfalls oft vergessen. Man erinnert sich, dass in Deutschland erst vor kurzem eine große Diskussion darüber entbrannt war, ob Bundesland oder Staat, um der Steuersünder, die ihr Geld im Ausland parken, habhaft zu werden, gestohlenes Datenmaterial aus Banken erwerben darf. Es ist letztlich gemacht worden. Der Staat hat widerrechtlich erlangtes Datenmaterial gekauft, um ein im Rechts-Sinne größeres Unrecht zu bekämpfen. Nebenbei hat der Staat damit ein gutes Geschäft gemacht. Die Digitalisierung der Kommunikation und Datenbestände hat dabei mitgeholfen. Der Geheimnisverräter hätte größere Probleme gehabt, Papierstapel von seinem Arbeitsplatz wegzuschaffen, als Daten auf einen Stick zu ziehen. Digitalisierung und Minaturisierung der Datenträger haben es ihm ermöglicht. Ein weiteres denkwürdiges Ereignis in diesem Jahr war die Cyber-Attacke auf die iranischen Atomanlagen. Dies wurde mittels sogenannter „Stuxnet“-Viren durchgeführt, die über einen USB-Stick in die Steuermechanismen der Industrie-Zentrifugen, die spaltbares Material anreichern sollten, gelangt waren. Der Hackerangriff, der generalstabsmäßig vorbereitet gewesen war, hat einen Teil der Atomproduktion zum Erliegen gebracht und das Atomprogramm des Iran zeitlich zurückgeworfen. Sowohl beim „Collateral“-Video als auch beim diesem Cyber-Angriff ging es um den Transport von Daten, die etwas bewirken. Es geht nicht mehr wie zu Zeiten der alten Spionage-Aktivitäten um Einbrüche und Mikrofilme sondern um Aktivitäten, die das Internet oder interne Vernetzungen ermöglichen. Wikileaks hat auf dieser Grundlage eine neue Form der investigativen Verbreitung von Informationen ermöglicht. Ein anonymer Sender, der nicht mehr ermittelt werden kann, schickt Wikileaks Datenmaterial zu. Die Organisation prüft es auch in Zusammenarbeit mit renommierten klassischen Medien wie dem „Spiegel“ und sorgt für seine multiplikative Verbreitung.

Informationen als „open Source“? Das Ende aller Geheimnisse?

Dieser Schneeball-Mechanismus hat mit dazu geführt, dass ein wichtiger Teil der relevanten Botschaften, die die politischen Medien in 2010 weltweit gebracht hatten, auf den Informationen von Wikileaks basierten. Das sollte man wissen, wenn es um Julian Assange als Popstar geht. Sein Licht würde nicht so hell oder im Zweifel gar nicht strahlen, wenn nicht Wikileaks so überaus gut funktionieren würde. Die technologische Entwicklung in mehreren Bereichen – Digitalisierung der Daten weltweite Vernetzung über das Internet und auch Miniaturisierung von Hardware – wird dazu führen, dass viel einfacher als früher Geheimnisse keine Geheimnisse mehr bleiben müssen.

Wunschdenken: Die Welt als besserer Ort

Die Aussage Assanges, die Welt würde ein besserer Ort, wenn niemand mehr sicher sein könne, ob seine politischen Leichen im Keller journalistisch verwertbar ausgegraben werden, ist nicht mehr als ein Trugschluß. Zwar setzt Wikileaks sich dafür ein, Mißstände aufzudecken, aber es steckt die Technologie dahinter, die auch einen Überwachungsstaat dazu bringt, Leute auszuforschen. Nicht nur Wikileaks hat es drauf, Technologien zu nutzen, auch Staaten wie China sind längst dazu übergegangen und an dem „Stuxnet“-Computer-Viren-Angriff auf die Atomanlagen im Iran sieht man, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist. Wikileaks ist im Nachrichtenbereich nur die erste Organisation, die das öffentlich gemacht hat. Andererseits stehen in Deutschland die innenpolitischen Zeichen auf Überwachung, Projekte wie der „große Lauschangriff“ künden davon, oder der Bereich der Kinderpornografie zeigt, dass Strafverfolgung effizient immer mehr über das Internet erfolgt. Wikileaks und Julian Assange sind in einer Phase der Euphorie, weil sie punktuell etwas bewirken konnten, in Zukunft wird die Welt durch den Einsatz grenzüberschreitender Technologie kein besserer Ort – im Gegenteil, man wird mit den Konsequenzen mehr schlecht als Recht leben müssen.

Schon Realität: „Big Brother is watching you!“

Übrigens braucht man sich nur eine „CSI“-Folge im Fernsehen angucken und man bekommt eine Vorstellung davon, wie digitale Spuren ganz einfach und alltäglich nachverfolgt werden können, egal ob es darum geht, wer an welchem Ort mit dem Handy telefoniert hat, wer mit dem Auto wohin gefahren ist, was durch das Navigations-Sytem ermittelt werden kann, wer über Email korrespondiert hat oder im Internet welche Seiten besucht hat usw. All das hat nichts mit der Arbeit von Wikileaks zu tun, aber damit, wie auch im Kleinen schon jetzt Wahrheiten zu ermitteln sind. Die Ergebnisse der Arbeit von Wikileaks, über die sich alle Welt freuen können, sind nicht ansich „gut“. Die Prinzipien im Umgang mit digitalen Daten und digitalen Wahrheiten werden schon längst auch von jenen Kräften erkannt und eingesetzt wird, die die Wirklichkeit verschleiern wollen. Nie war das einfacher – ob um politische Wahrheiten in Wikipedia gehen oder die Körpchen-Größe des Models auf dem Titel der Fernsehzeitschrift, der in Photoshop mittels Bildmanipulation nachgeholfen wurde. Einen Gewinner im Wettstreit der Informations-Blockade und der Informations-Freiheit wird es nicht geben. Es ist ein permanentes Kräftemessen. Und sollte Julian Assange persönlich scheitern, ist die Griffigkeit dieses öffentlichen Gesichts erstmal passé – aber das „Prinzip Wikileaks“ als Vertriebskanal für brisante Informationen noch lange nicht am Ende.

Die mobile Version verlassen