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Medien-Schicksal als Aggregat-Zustand: Wie der Fall Kachelmann zwischen Schein und Wirklichkeit zerfließt

Jörg Kachelmann blickt aus zwei Perspektiven in die Zukunft: Als real vorhandener Mensch und als Medienprodukt. Was er dort sieht ist aus beiden Blickwinkeln das Gleiche: Das Ende seines Images.

Der Fall Kachelmann vollzieht sich weiter auf der öffentlichen Bühne. Jörg Kachelmann steht immer noch vor Gericht. Die Anklage lautet auf schwere Vergewaltigung. Wesentliche Zeugen sind gehört worden, unter anderem das mutmaßliche Opfer. Das Gericht wird sein Urteil voraussichtlich im Dezember fällen. Kaum ein Ereignis wurde von den Medien nach Bekanntgabe des Vorwurfs – also schon lange vor dem eigentlichen Prozeß – so manisch begleitet wie dieser Prozeß gegen Jörg Kachelmann.

Man erinnert sich an andere Ereignisse, die zu großen Medien-Events verkamen: Die Geiselnahme von Gladbeck beispielsweise, als die Medien den Geiselnehmern zu nahe kamen und im Falle Des Journalisten Udo Röbel vom Kölner Express sogar mit ihnen ins Auto stiegen und sie begleiteten. Die Medien machten sich selbst zum einflußnehmenden Bestandteil des Ereignisses, indem sie den Geiselnehmern zum Beispiel Fotos von Polizisten zeigten, um vor ihnen zu warnen und so das Vertrauen der Geiselnehmer zu gewinnen. Der Journalist, der nur berichten sollte, griff in das Geschehen ein. Die Grenzen zwischen Beobachtung und Einflußnahme verwischten.

Die einzige Währung, die in der Medienwelt zählt: Aufmerksamkeit

Ein Medienschaffender mag viele individuelle Ziele verfolgen aber eines ist gewiss: Er will Aufmerksamkeit, will viele Leser oder eine hohe Quote. Das erscheint wie das sich perfekt ergänzende Zusammenspiel zwischen Voyeur und Exhibitionist: Der eine zeigt, der andere guckt. Die Medien sind also in der Rolle des Exhibitionisten, der den voyeuristischen Zuschauern und Lesern zeigt, was es mit dem Medien-Star Jörg Kachelmann auf sich hat. Es werden genüsslich seine Schattenseiten, die Untiefen seiner Persönlichkeit und siner Lebensführung ausgebreitet. Das ist fast so wie die ersten Mondlandung: Fremdes Terrain ist zu erkunden, das ist spannend. Man kennt ja nur die Medien-Wirklichkeit der Figur „Jörg Kachelmann“, der Privatmann ist unbekannt. Es geht in diesem besonderen Fall um das Zerreißen eines Bildes, das sich in der Medien-Wirklichkeit etabliert hatte. Das ist, angesichts der Ernsthaftigkeit eines Vergewaltigungsprozesses und der schweren Vorwürfen der Anklage, Drama pur.

Gesetzgebung, Vollzug, Rechtsprechung, Medien, Öffentlichkeit

Unser Rechtssystem ist durch die Gewaltenteilung gegliedert: Die Legislative erläßt die Gesetze, die Exekutive vollzieht sie und die Judikative spricht Recht. Als informell vierte Gewalt gilt die publikative, die der Presse und allgemeiner der Medien. Die Wucht der öffentlichen Wahrnehmung, vor der sich sowohl das mutmaßliche Opfer als auch der mutmaßliche Täter in Acht nehmen müssen, hat nun dazu geführt, dass Jörg Kachelmann gesagt hat, er wolle nie wieder vor der Kamera agieren. Das hat eine ganze Menge an defensivem Optimismus, denn es bliebe ja zunächst abzuwarten, ob er überhaupt die Wahl hat und nicht unter Umständen verurteilt wird. Auf der anderen Seite ist es aber eigentlich jedem einleuchtend, dass Kachelmann – wie immer der Prozess auch ausgehen mag, ja, selbst dann, wenn er sich als unschuldig herausstellen sollte – nicht mehr das Wetter locker-lustig moderieren kann. Warum ist das so?

Die Aufrechterhaltung der Traum-Welten

Hier zeigt sich das Fernsehen von seiner TraumweltSeite: Jörg Kachemann ist der locker-harmlose Zausel mit Lausbuben-Image. Dieses Image ist aufgrund all der Informationen, die zwischenzeitlich medial über sein Privatleben transportiert wurden, obsolet. Dahinter schimmert das Grauen der Wirklichkeit, das Leben mit seinen Lüsten, seinen Abgründen. Die Welt, wie wir sie sehen – zumal im Fernsehen sehen – ist jetzt gefährdet, weil wir nicht mehr an das Schöne, das Gute, das Lustige und Lockere glauben könnten, würden wir jenen Jörg Kachelmann, der schockstarreartig zur realen Person mit all ihren Schwächen und Schrecken mutiert ist, wieder im Fernsehen sehen. Wir könnten nicht mehr über seine Scherze schmunzeln, weil wir ihm unterstellen würden, sein Auftritt sei Fassade. Das ist ein Hollywood-Syndrom: Zuviel Abgründigkeit im realen Leben kann einem den Wetterbericht mal so richtig verhageln.

Der Leumund des Medien-Produktes

Man mag dabei an Figuren wie den deutschen Entertainer Harald Juhnke denken, der Alkoholiker war und dadurch manches Mal im Fernsehen daneben gegriffen hat. Das Publikum hat ihm dennoch lange Zeit verziehen und wieder eingeschaltet, wenn die nächste Sendung, die er moderierte, lief. Aber alles hat aber seine Grenze. Irgendwann holte das wahre Leben den Moderator ein – und da war er für den Glitzer-Bildschirm nicht mehr tragbar. Höchstens noch als Schauspieler im Fernseh-Drama „Der Trinker“ nach Hans Fallada. „Hollywood“ bedeutet „Schein“ und „Fassade“. Das kann eine verheißungsvoll strahlende Fassade sein, wie anno dazumal oder eine vermeintlich realistische wie in Italo-Western, in Polizei- und Crime-Serien oder Horrorfilmen. Allen gemeinsam ist, dass sie Schein-Realitäten entwerfen, die solange funktionieren, wie die Akteure, die in diesen Kulissen leben, einigermaßen glaubwürdig bleiben. Ein Strahlemann darf also nicht Abgründe seines Privatlebens offenbaren. Ein Schauspieler wie Bruce Willis dürfte nicht rauslassen, wenn er privat ein Weichei wäre. Wenn ein Medienprodukt doch seine Verfehlungen zugibt, dann nur in Form einer selbstkritischen Distanzierung, als eine Abrechnung mit der Vergangenheit, die medienwirksam inszeniert wird und zum Standard-Repertoire eines jeden Schauspielers gehört. Die Agenten der Medien-Stars sind ja auch dafür da, den Star insofern abzuschirmen, als nicht genügend seines wirklichen Seins an die Öffentlichkeit dringen sollte. Denn die könnte sich davor erschrecken – oder gelangweilt sein.

Jörg Kachelmann und das Ende eines Traumes

Im Falle Jörg Kachelmanns erinnert man sich ebenso an den Fall „Andreas Türck“, der Moderator eines Talk-Show-Formats auf „Pro Sieben“ gewesen und wegen Vergewaltigung angeklagt worden war. Auch in diesem Fall sprachen die Medien den Moderator schuldig, bevor erwiesen war, um was es in dem Fall tatsächlich ging. Türck wurde freigesprochen und ist nie wieder im Fernsehen aufgetreten. Ob er unschuldig oder schuldig war, konnte das Gericht nicht klären. Dass Jörg Kachelmann nun verkündet, nicht mehr im Fernsehen auftreten zu wollen, weil seine Existenz als Wetter-Moderator – unabhängig von dem Prozess – durch die Medien zerstört worden sei, ist keine Überraschung und scheint folgerichtig. Denn als Medien-Produkt ist er sich der Mechanismen der Medien bewußt. Medien sind hauchdünne Membranen, durch die die Wirklichkeit nur schemenhaft hindurchscheint. Auf ihrer Oberfläche sind die Wünsche und Ängste der Zuschauer und Zuhörer projeziert. Wehe dem, der diese fragilen Projektions-Flächen zerreist und dem Medien-Nutzer seine Wunsch-Bilder nimmt. Vor allem dann, wenn der in den Medien Agierende ein wichtiger Bestandteil dieser Traum-Welten der Entertainment-Konsumenten ist und damit eine Schlüsselfigur für die Dechiffrierung der jeweiligen medialen Welt.

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