Ok, nicht 5 Millionen. Die Veranstalter von „Still-Leben Ruhrschnellweg“ sprechen von 3 Millionen, wer dabei war, hätte vielleicht 2 Millionen geschätzt. Man kennt das bei Volksfesten. Meistens sind die Initiatoren so begeistert vom großen Zuspruch der Besucher, dass sie immer mehr nach oben aufrunden.
Es könnte auch sein, dass es 1 Millionen Menschen waren, wer will das sagen?
Verdammt viele Menschen also, die sehen wollten, wie die hässliche A40 ohne Autos aussieht. Das hatte man ansatzweise schon mal in den 70ern, in den Zeiten der Ölkrise, gesehen.
Der Event als Psycho-Spritze?
Aber dann passierte etwas Komisches: Oliver Scheytt, ehemaliger Kulturdezernent der Stadt Essen und einer der Geschäftsführer der Kulturhauptstadt-Projektgesellschaft Ruhr2010 nannte den Event PR-mäßig eine „große soziale Skulptur“. Diese Aussage verband er damit, das sowas das Selbstbewußtein der Menschen stärke. Wie psychisch deformiert müssten die Einwohner des Ruhrgebiets sein, wenn ein simples Volksfest sie derart aufbauen könnte? Letzlich mag der dimensionssprengende Besuch der Nichtmotorisierten aber tatsächlich mit einer therapeutischen Aufarbeitung der traumatisierenden Stau-Erlebnisse auf der A40 zusammenhängen.
Städte verbindendes Potenzial
Aber halt: „Ein simples Volksfest?“ Auch wenn wir die paar Millionen, die dazugemacht wurden, abziehen, war es trotzdem schon gigantisch. 60 Kilometer Tische, 20.000 an der Zahl, verbanden symbolisch einladend die Städte Duisburg, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr, Essen, Gelsenkirchen, Bochum und Dortmund miteinander. Eine Seite der Autobahn war den Fußgängern und den Tischen vorbehalten, die andere Seite der motorenlosen Mobilität, meist mittels Fahrrädern.
Gesetzte Zeichen: Keine Autos mehr
Die U-Bahn U18 stellte ihren Betrieb für den Tag ein. So konnten die Leute auch auf den Schienen hin- und herspringen. Insgesamt ein surreales Ereignis mit lang anhaltender Nachbrenn-Wirkung. Wer die A40 jahrzehntelang kannte, wer dort mit Pausenbroten bewaffnet einen Großteil seines jungen Lebens im Stau stehend verbracht hatte, konnte gar nicht so schnell realisieren, dass diesmal tatsächlich keine Autos fuhren, dass für einen Augenblick innerhalb der kosmischen Ewigkeit dem stauigen Stillstand Einhalt geboten wurde. Diesmal war Fortbewegung angesagt.
Kultur-Raum Ruhrgebiet
Jedenfalls war es aus Gründen der Image-Wirkung notwendig, innerhalb des Standort-Vermarktungs-Projektes „Kulturhauptstadt Ruhr 2010″ ein Großereignis zu lancieren, das mit Superlativen protzen kann. Das muß sein, damit alle überall aufmerken und das Ruhrgebiet endlich wahrnehmen. Auch als Kulturraum. Hat der Event dieses Ziel erreicht? Nun ja, er war begrenzt kulturverbindend, eher schon städteverbindend – er hatte vor allem anderen Symbolkraft im Hinblick auf die Einheit des Ruhrgebiets.
Was sind wir ohne die A40?
Der Event hat viele kleine Erlebnis-Welten und Wahrnehmungs-Nischen geboten. Sozusagen eine Welt-Ausstellung im Mini-Format. Er hat den Menschen gezeigt, wie lächerlich die A40 doch ist. Gerade denen, die hier wohnen müssen, weil sie sich keine höheren Mieten leisten können, müsste sie so erscheinen. In der dazugehörigen WDR-Fernseh-Reportage vom 18. Juli 2010 darf sich selbst dann auch eine Anwohnerin ängstlich fragen, ob sie des Nachts ohne den gewohnten Autolärm wohl werde schlafen können. Sie vermutet: Wohl nicht.
Sommer-Schicksal: Ein Fest, bei dem die Besucher gegrillt wurden
„Still-Leben Ruhrschnellweg“, das Fest, bei dem der dröhnende Autolärm in desen Kernzeit von 11-17 Uhr einmal ausnahmsweise komplett verstummt war, schuf laut Veranstalter „eine Begegnungsstätte der Kulturen, Generationen und Nationen“ und „die längste Tafel der Welt.“ Es sollte ein Perspektivwechsel befördert werden, es sollten Menschen aller Kulturen auf der Hauptverkehrsader des Ruhrgebiets zusammenkommen. Der Veranstalter betont, dass es kein Grillfest herkömmlichen Zuschnitts sein sollte, sondern eine Begegnungsmöglichkeit der Kulturen, ein Kulturfest.
Wo ist das Veränderungs-Potenzial?
Ein Kulturfest? Millionen schlendern oder fahren über eine normalerweise menschenverachtende Autobahn, die sie nun als handszahm erleben. Das ist Surrealismus pur, es hat auch etwas Irrwitziges. Aber am nächsten Tag wird alles so sein, wie es vorher war: Luftverpestung, Energieverschwendung, Gestank, Blechlawinen in Staus, die im Sommer sogar von lahmenden Fußgängern überholt werden könnten.
Mimikry: Fußgänger bilden Auto-Korsos nach
Das also ist der wahre Kern dieses Kulturfestes: Das Nachstellen des üblichen Motoren-Blech-Staus – der völlig absurd ist, da er das Gegenteil von Mobilität darstellt – mittels nicht-motorisierter Mobilität. So gesehen ein Meta-Symbol für den Verkehr der Zukunft: Die Armen werden sich keine Autos mehr leisten können und müssen zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren. Das Wetter, die Stimmung, die Atmosphäre waren ansonsten gut. Kein gewerblicher Verkauf von Essen und Trinken, deshalb kaum Müll – wirklich gut organisiert.
Die eigentliche Meisterleistung: Die Organisation
Ja, überhaupt: Die einjährige Organisations-Planung hat sich gelohnt. Das Fest der Begegnung auf der „A40“ – die auch „Ruhrschnellweg“ oder partiell „B1“ genannt wurde oder wird – war auch Resultat einer logistischen Meisterleistung und hat damit das eigentliche Ziel der Kulturhauptstadt unterstützt: Verlässlichkeit als Standortwerbung.
Medienereignis mit kulturellem Wert?
„Still-Leben Ruhrschnellweg“ hat gut Wetter gemacht für das imagemässig notorisch unterbelichtete Ruhrgebiet. Diesmal also haben aus Sicht des Ruhrgebiets die Guten gewonnen. Wieder stellt sich jedoch die Frage, ob und wann ein Medien-Ereignis, eine Inszenierung für die multiplikatorischen Medien, ein Kultur-Ereignis sein kann.
Gute Organisation als kulturelle Leistung
Wäre dieses Freizeit- und Begegnungsfest über den großen organisatorischen Entwurf hinaus tatsächlich ein kulturelles Ereignis, wäre seine Botschaft traurig: Wir können nichts verändern, morgen wird alles so sein wie vorher. Und der Name? Ein „Still-Leben“, das dem Stillstand in den Köpfen und der technologischen Langsamkeit der gegenwärtigen Mobilität huldigt, deren wahnwitzige Konzeption sich nur dann mal ändert, wenn eine Öl-Katastrophe die komplette Welt niederringt oder eben keine Rohstoffe mehr vorhanden sein werden.
Weitere Artikel zum „Still-Leben Ruhrschnellweg“:
1. Große Ereignisse werfen nicht nur ihre Schatten voraus
2. Auf der Autobahn nachts um halb Zwei
3. Die Ruhe vor dem Event
5. Die Sprache des KultRuhrgebiets
6. Walk the Line
Filme zum „Still-Leben Ruhrschnellweg“:
1. A40 Still-Leben: Soul
2. A40 Still-Leben: Marsch
3. A40 Still-Leben: Chor
4. A40 Still-Leben: Folk
5. A40 Still-Leben: Mobil
6. A40 Still-Leben: Wimmel
Artikel zur „Kulturhauptstadt Ruhr 2010“:
1. Der Ruhr-Fiasko-Express
2. Essen: Die Schattenseiten der Kulturhauptstadt 2010?
3. Kulturbegriff: Kultur von unten von oben betrachtet
4. Die Überhauptstadt: Cooltour-Ruhrgebaet2010
5. Ausstellung „Anton Stankowski“ im Kunstmuseum Gelsenkirchen
Filme zur „Kulturhauptstadt Ruhr 2010“:
1. Essen Hauptbahnhof, Passarelle
2. Kulturstadt, Lichtstadt
3. Kultour-Meile A40
4. Lichterkette, Essen Hauptbahnhof
5. Museum Gelsenkirchen (1)
6. Museum Gelsenkirchen (2)
2 Responses to “Kulturhauptstadt2010’s A40 Still-Leben (4): 5 Millionen bilden einen Stau nach”
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