Jedes Kunstwerk existiert in zwei zeitlichen Dimensionen: Einmal in der Zeit, in der es entstanden ist, in der dem Betrachter Bezüge zur Gegenwart klar werden konnten, zum anderen in der Zukunft, in der das Kunstwerk, seines Bezugsrahmens beraubt, darum ringt, in einen aktuellen zeitlichen Kontext eingeordnet werden zu können. Wenn nun eine Foto-Austellung des jung verstorbenen New Yorker Fotografen Robert Mapplethorpe in Deutschland – Jahrzehnte, nachdem das Werk für Skandale und viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, ausgestellt und immer noch als „gefährlich“ bezeichnet wird – hat es dann tatsächlich noch diese Wirkung? Bleibt dieses Werk provokativ oder hat es seiner Sprengkraft beraubt den Status eines eher langweiligen Klassikers?
Betrachtet man diese Fotografien mit Gänsehaut und ambivalenten Gefühlen oder blickt man distanziert und kopfgesteuert durch eine museal bedampfte Brille? Wenn es so wäre, wie zuletzt geschildert, wäre Robert Mapplethorpe, der die zeitgenössische Fotografie in mehrfacher Hinsicht bereichert hat, einer der Letzten, die das verdient hätten.
Gott Phallus als visueller Wegweiser
Der Fotograf war schwerpunktmäßig in den 1980er-Jahren ein Akteur der puren Provokation, in deren Mittelpunkt die Huldigung des männlichen Körpers stand – inklusive expliziter Darstellungen des Phallus. Das offensiv Homoerotische war die Botschaft der zahlreichen überwiegend schwarzweißen Fotografien. Auf dieser Ebene hatten Mapplethorpe’s Bilder eine politisch-soziale Bedeutung. Außerdem unterwarfen sich seine Motive größter grafischer Strenge, sie waren bezüglich der Flächenaufteilung mustergültig gestaltet, nutzten innerhalb des meist ruhigen quadratischen Formates die Proportionen des goldenen Schnitts, ließen jedes überflüssige Beiwerk weg, um die Grundformen des Hauptmotives zu verdichten. Spontanität, Beiläufigkeit oder Unschärfen gab es bei Mapplethorpe im Wesentlichen nicht. Was er zeigen wollte, stand klar abgegrenzt und scharf abgebildet im Mittelpunkt der Wahrnehmung. Die Inszenierung zelebrierte in der sanften Abstufung der Ausleuchtung und Töne und der teils porentiefen Schärfe eine längst vergangen geglaubtes Schönheitsideal, dem man unter anderen Umständen das Prädikat „dekorativ“ hätte zuordnen können.
Körperwelten: Provokation durch Schönheit
Doch genau hier lag die visuelle Sprengkraft seines Werkes: Homoerotik – ohne Weichzeichnung, ohne Einschränkung oder die Möglichkeit einer Umdeutung – in den Vordergrund zu rücken, gar zu verherrlichen, und dies in einer klassischen Form darzureichen, die zu schön ist, um wahr zu sein – das ist die eigentliche Provokation. Der geöffnete Reißverschluß einer Anzughose, aus dem ein halberigiertes männliches Glied ragt, so schön und auf die Mapplethorpsche Weise fotografiert, sorgte zur damaligen Zeit für offene Münder.
Die floralen Motive: Das Männliche hinter den Pflanzenbildern
Selbst der andere große Teil des Werkes – teils farbig fotografierte Pflanzenmotiv-Stilleben, in der Totalen oder in Ausschnitten – konnte man nicht wertfrei betrachten. In ihm pflanzt sich die Vorliebe für klare geometrische Formen, die auch die männlichen Körper dominierten, fort: So kann es sein, dass ein Foto von einem Fruchtstempel, der aus einer Blüte ragt, an den männlichen Phallus erinnert oder an andere Formen, die den menschlichen Körper nachbilden.
Homosexualität der Bildsprache: Das fotografische Coming Out
Die Wirkung Robert Mapplethorpe‘s bezieht sich historisch auf eine Zeit, in der Homosexualität ihr Coming Out nicht mehr nur in familiären oder regionalen Zusammenhängen hatte, sondern an der Schwelle stand, zum gesellschaftlichen Ereignis zu werden. Es war die Zeit, in der man endlich auch in den Medien und damit in der Öffentlichkeit zu seiner Homosexualität stehen konnte. Männliche Homosexualität huldigt dem Mann und der männlichen Physis – ein Faktum allerdings, das dem immer stärker werdenden Feminismus und allgemein der weiblichen Emanzipation andererseits zuwiderlief. Die Kopplung der Aspekte – die offen kommunizierte Homosexualität, das unvergleichlich eindeutige Bekenntnis zur Männlichkeit in der Darreichungsform klassischer Schönheit – mußten starke Gegenreaktionen hervorrufen.
„Lady Lisa Lyon“ als Wiedergutmachung an der Weiblichkeit?
In diesem Zusammenhang steht auch, dass Mapplethorpe einen ganzen, viel beachteteten Fotobildband über Lisa Lyon, eine amerikanische Bodybuilderin, publizierte. Wenn das als ausgleichende Verehrung der weiblichen Physis gedacht war, entkräftet es nicht unbedingt den Männlichkeitswahn, den man Mapplethorpe unterstellen könnte. Während die Fotos von Männern explizit sexuell anmuten und oft das männliche Glied in einem teilerrigierten Zustand darstellen und damit auch seiner Größe eine Wichtigkeit geben, wirken die Bilder des Lisa Lyon-Zyklus kalt wie eine Anatomiestudie. Die klassische Formensprache wird auch hier angewendet, aber weder primäre noch sekundäre Geschlechtsmerkmale werden visuell gefeiert oder treten in den Vordergrund. Im Gegenteil: Bei der Darstellung des Körpers dieses Models wird viel Wert auf die Darstellung der imposanten Muskulatur gelegt, die eher maskulin wirkt aber ohne die femininen Attribute völlig zu verleugnen. Sie werden eher in ihrem Ebenmaß gezeigt. Das Ergebnis ist ein Fotozyklus, der auf diese Weise Androgynität darstellt und damit als Thema wieder die Geschlechterrolle wählt.
Die Portraits: Inszenierung von Oberflächen
Ein weiterer Teil des Oeuvres von Mapplethorpe ist die Portraitfotografie. Zahlreiche Prominente haben sich von ihm ablichten lassen. Was ist das ästhetische Ergebnis dieser Arbeiten? Mapplethorpe huldigte stets der Oberfläche, der äußeren Form. Seine visuelle Sprache war nicht psychologisierend. Es war, als wollte er sagen: „Seht her, so schön sind Äußerlichkeiten und Physis, was darunter ist, liegt nur im Auge und der Vorstellungswelt des Betrachters und interessiert mich nicht.“ Auch die Portraits gehen als Auftragsarbeiten und als Konterpart zur Darstellung von Körpern nicht psychologisierend vor, sie versuchen nicht den Menschen hinter dem Bild zu erschließen, sie inszenieren eine Hülle, mitunter sogar überhöhen sie den Portraitierten ins Unwirkliche und bedienen sich dazu der gewohnten Strenge. Manchen Prominenten hat er unglaubwürdig dramatisierend sexualisiert. Zugleich entlarven sie Mapplethorpe, den gesellschaftlich beachteten Provokateur, als brav, dekorativ und sogar opportunistisch – Ergebnis seiner Szenezugehörigkeit in Promikreisen.
Reise zum Ich: Die Selbstportraits
Neben den Fotos von Körpern und Körperteilen, den Blumenbildern und Portraits gibt es einen vierten Bereich – den der Selbstportraits – die den Künstler zeitlebens begleitet haben. In diesen Selbstinszenierungen frönt er zum Teil seiner Eitelkeit und stilisiert sich als gefährlich lebend: Mal mit dem Messer in der Hand, mal martialisch in Ledermantel mit Maschinengewehr, mal als Lebemann mit Zigarette im Mundwinkel, mal mit geschminktem Gesicht auf Frau getrimmt. Ganz egal, ob er dies ernst gemeint hat oder es das Spiel eines berühmten Mannes mit seinem Selbstbild ist, es bleibt die Auseinandersetzung eines Künstlers, der zwischen übermächtigem Image und schnellem Leben sein Selbst sucht. Diese Bilder changieren zwischen plumper Provokation, manirierter Selbstdarstellung und notwendigem Selbstfindungstrip. Wer dem Fotografen auf seinen Fotografien hier tief in die Augen blickt, erfährt einiges über den Erfolgsmenschen und Überfotografen, der Zeit in die Selbstintrospektion investierte und es nötig hatte, weiter an seinem Image, das manchmal weniger als das eines Künstlers und mehr als das eines Rockstars erschien, mitzuarbeiten. Der dort agierende Mensch ist jedoch ein ganz anderer als jener, dessen Sensibilität viele seiner beeindruckendsten Werke erst möglich gemacht hat.
Ein langer Weg: Tabus in Zeiten der Tabulosigkeit
Das Mittel, mit dem Mapplethorpe Wirkung erzielt hat, war der gezielte Tabubruch. Wie wird sein Werk in einer Zeit rezipiert, in der Darstellungen, die vor Jahrzehnten ein Reizthema waren, inzwischen zum Mainstream geworden sind? Pornografie ist zum unreflektierten Kulturgut geworden und der menschliche Körper wird inzwischen detailliert in „Feuchtgebieten“ erschlossen. Homosexualität wird gesellschaftlich immer mehr anerkannt: Es ist kein Verbrechen mehr, homosexuell zu sein, Politiker kommunizieren ihre Gleichgeschlechtlichkeit in der Öffentlichkeit und homosexuelle Ehen gehören langsam zum gesellschaftlichen Alltag. Wie nachdenklich macht da noch ein Werk, dass konsequent etwas anbetet, das man früher öffentlich nicht anbeten durfte – jetzt aber schon? Es hat etwas Patina angesetzt, weil diese thematische Fixierung in ihrer Ernsthaftigkeit nicht mehr so ganz in die postmoderne Zeit des Augenzwinkerns passt. Ein Werk aber, das von der Provokation gelebt hat, verliert mehr, als eines, das ruhiger agiert.
Reduktion durch Konzentration und die Kraft der Themen-Fixierung
Grafisch-gestalterisch bleiben die Fotografien jedoch zeitlos. Ihnen kommt ihr Streben nach Reduktion und größtmöglicher Klarheit zu gute. Das Werk stellt kaum Bezug zu der Zeit her, in der es entstanden ist. Mapplethorpe hat damit eine visuelle Sprache formuliert, die damals verstanden wurde, heute und sicher zukünftig auch verstanden wird. Die umfassende Ausstellung im Düsseldorfer NRW-Forum zeigt in 160 Exponaten einen der einflußreichsten Fotografen der Neuzeit, den Fotografen, der die stärksten Reaktionen hervorgerufen hat – und den besten Gestalter. Einen produktiven Fotografen, der in der Öffentlichkeit stand und es locker in die Documenta schaffte. Der Rest ist Image und Selbstdarstellung – inklusive seiner letzten Selbstportraits als Aids-Kranker kurz vor seinem Tod. In ihrer Natürlichkeit zeigen sie vielleicht zum ersten Mal den Menschen hinter dem Werk und damit mehr als nur Oberfläche. Eine solch breite Darstellung des Mapplethorpschen Oeuvres läßt auch erahnen, welche Kraft der Künstler gehabt haben mag, um durch seine Fixierungen sein Werk zu erschaffen. Inhaltlich wird man es aber nicht mehr so ernst nehmen können wie damals.
Anmerkungen zur Ausstellung
Die Düsseldorfer Ausstellung verzichtet auf eine Relativierung der Motive. Wo andernorts das Werk des Fotografen mit Exponaten lang vergangener Epochen in Beziehung gesetzt wurde, hängt begrüßenswerterweise in Düsseldorf der reine Mapplethorpe.
Das NRW-Forum Düsseldorf hat eine eigene iPhone-App als Ausstellungsführer eingerichtet. Gleichzeitig kann von jedem Handy aus die Audiospur in der Ausstellung zum Ortstarif genutzt oder aber vorab heruntergeladen werden. Unterlegt sind die Informationen mit Musik von Patti Smith und Velvet Underground. Wie passend. Die Ausstellung läuft bis zum 15. August und enthält Werke aus allen genannten Zyklen von Robert Mapplethorpe.
Videos zum Fotografen Robert Mapplethorpe:
Robert Mapplethorpe und Patti Smith
Robert Mapplethorpe und sein Lebensstil