Jetzt ist das Jahr 2010 – in dem Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet Europas Kulturhauptstadt geworden ist – wie ein Event eröffnet worden. Bundespräsident Köhler und andere haben vor ausgewählten Gästen gesprochen, danach haben viele Menschen auf Zollverein ein Auge auf das Weltkulturerbe geworfen und ein grandioses Feuerwerk betrachten dürfen. Was eigentlich haben sie gefeiert?
In erster Linie wohl, dass das eigene Selbstbild als Einwohner in der Problemregion „Ruhrgebiet“ endlich den verdienten Schub, die lang ersehnte Unterstützung erhält. Das Projekt „Kulturhauptstadt 2010“ soll den Beweis antreten, dass das Ruhrgebiet unterschätzt wird. Der Größenwahn, das Ruhrgebiet mit Metropolen zu vergleichen, wurde hier schon beschrieben. Letztlich kann ein zu hoher oder falscher Anspruch kulturelles Streben, das tatsächlich vorhanden ist, aber auch erdrücken.
Spannungsfeld „Weltkulturerbe/Strukturwandel“: Konservierte Erwartungen gegen Zukunftsorientierung
Der Event „Kulturhauptstadt“ vereinigt in sich herrliche Spannungsfelder. Da ist das Spannungsfeld zwischen der ehemals größten Bergbauanlage der Welt bzw. dem industrieellen Komplex von damals, und jetzt guck‘ mal, was heute daraus geworden ist: Ein Designzentrum oder ein Weltkulturerbe als monströse Zechenmaschinerie „Zollverein“. Das aber durch Anpassungs- und Umbaumaßnahmen auch mal Gefahr läuft, seinen zu konservierenden Status wieder zu verlieren. So ist das: Die einen wollen den Erhalt als Industriedenkmal und nennen das „Weltkulturerbe“, die anderen wollen aber weiterkommen, Veränderungen herbeiführen, eigene architektonische Impulse setzen und nennen das „Strukturwandel“.
Spannungsfeld „Innen/Außen“: Selbstbild gegen Fremdwahrnehmung
Dann gibt es das Spannungsfeld zwischen der Binnenwahrnehmung des Ruhrgebietes, einer lokalpatriotisch-grassierenden flächenbrandmäßigen Selbststilisierung des Ruhrgebietlers als einzigem menschelndem Menschen unter der verstaubten Sonne und der fiesen Außenwahrnehmung durch den Rest der Republik vom Ruhrgebiet als minder bemitteltem Armenhaus: Kulturlos, gottlos, verschmutzt, in einer heruntergekommenen Blade-Runner-Kulisse dahinvegetierend, nicht ahnend, dass es irgendwo da draußen – vielleicht in Bayern oder Baden-Württemberg – grüne Pflanzen und blauen Himmel gibt. Wenn das nicht guter Stoff für einen Roman sein könnte.
Spannungsfeld „Sein/Schein“: Kulturhauptstadt gegen Kultur von unten
Das aktuelle Spannungsfeld ist dabei aber noch gar nicht benannt: Das, welches sich aus der Rede des Bundespräsidenten, der vor ein paar Politikern und Funktionären spricht, ergibt und dem kleinen Künstler in seinem Essen-Rüttenscheider Atelier, der gerade auf einem Pinsel ausgerutscht ist und mit dem Gesicht auf einer Stadtwerke-Mahnung mit gleichzeitiger Sperrungsandrohung landet. Kultur wird vor allem von der Politik aus der Vogelperspektive wahrgenommen. Die Leute, die Kunst und Kultur leben, stehen auf der anderen Seite, oder anders gesagt: Sie leben und produzieren den Stoff, den die Politik der Öffentlichkeit verkauft. Sie können ihr Streben nur im Ausnahmefall als Standort-, Image- oder Regions-Vermarktungspotenzial ansehen.
Spannungsfeld „Kultur/Unkultur“: Höhlenmalerei und Graffiti
Werfen wir einen Blick auf den geschundenen Graffitti-Sprayer, der beim Ausüben seiner sehr ursprünglichen Kunst Lösungsmittel einatmen, Treibhausgase freisetzen und damit sein und unser aller Leben aufs Spiel setzen muß. Auf dem Foto über diesem Text ist ein Graffiti auf einer Fußgängerbrücke in Essen-Rüttenscheid zu sehen. Während die Straßen nach festgelegtem Muster planungssicher gestaltet das Stadtbild prägen, die Stadt wie Adern durchziehen und strukturieren, ist diese eher behelfsmäßige Stahlkonstruktion als Fußgängerbrücke ein Mahnmal: Schlecht gestaltet als funktionaler Notbehelf, damit man überhaupt irgendwie über eine dieser Hauptverkehrsstraßen, die fette Alfredstraße, kommen kann – und das seit vielen Jahren. Die Brücke ist ein Witz. Sie fügt sich nicht ins Stadtbild, sie karikiert es eher. Ist sie auch sowas wie „Industriekultur“? Eher das Gegenteil: Sie ist Zeuge der Kulturlosigkeit zumindest an dieser Stelle. Das Graffiti veredelt sie, macht sie zu einer Art metallener Leinwand. Doch die Brücke ist nicht lediglich ein Behältnis für kulturelle Inhalte, sie bildet für das Graffiti den Bezugsrahmen, das ernüchternde Umfeld. Was besonders anätzt, wird besonders oft zugesprayt.
Spannungsfeld „Marketing/kulturelle Vielfalt“: Im Gebetsmühlen-Räderwerk
Wo tickt die Kultur, die die Kulturhauptstadt 2010 ausmacht? Die offiziellen Kulturhauptstadtprojekte wirken in ihrer Darbietung wie eine kulturelle Hitparade. In den Theatern, den Opernhäusern, den historischen Bauwerken, in der neuen Architektur liegt das, was die Kulturhauptstadt wohl auch ausmacht und was man gut nach außen hin darstellen kann. Welche Rolle spielen da all die Kleinkünstler, die kleinen Bühnen, die bildenden Künstler, die Musiker, die Autoren, die in Hinterhof-Ateliers oder den eigenen vier Wänden arbeiten? Ist all das die Kulturhauptstadt als Summe der künstlerischen und kulturellen Potenz der Region? Oder liegt sie irgendwo dazwischen? Die Frage ist, wie man diese vielleicht vorhandene Potenz sichtbar machen könnte. Bei Labeln geht es darum, ein paar wenige Botschaften zu vermitteln, und das gebetsmühlenartig. Da bleiben viele Nuancen und Zwischentöne auf der Strecke. Schaut man sich das Programm für das Kulturhauptstadtjahr an, denkt man an zwei Begriffe: „Große Namen“ und „Flächendeckung“. Also gucken wir zukünftig mal, was es sonst noch so gibt.
One Response to “Kulturbegriff: Kultur von unten von oben betrachtet”
[…] …nach dem Feuerwerks-Erwachen. […]