Als vermeidbare Ergänzung zu diesem Text ein Auszug aus meinen verworrenen Erinnerungen:
Ich kannte da mal eine, die las aus Marmorkuchen die Zukunft. Nach vollzogener Hellseherei bot sie ihren Kunden das Stück an, doch die lehnten es meist ab, von der Vorhersage ihrer wahren Liebe oder dem Leiden ihrer Großmutter zu kosten. Also aß sie selbst die Stücke.
Ganz schön dick und rund ist die mit den Jahren geworden. Je erfolgreicher sie wurde, desto mehr hatte sie den Marmorkuchen satt. Weil Marmorkuchen ihre Geschäftsgrundlage war, konnte sie nicht umschwenken. Sie wurde mürrisch. Ihre Zukunftsprognosen wurden immer düsterer und düsterer. Das mochte keiner gerne hören und so starb sie verarmt.
26 Responses to “Marmor Mental”
Ich kannte mal eine Wahrsagerin, die aus feinsten Stücken Schwarzwälder Kirsch die Zukunft las. Bei ihr waren eher die Kunden füllig. Sie war frustriert, weil sie der Meinung war, dass die Leute nicht wegen ihrer Übersinnlichkeit sondern nur wegen der schmackhaften Torte zu ihr kämen.
Aus Frust darüber verschenkte sie all ihr Geld und starb verarmt.
Meine Mutter bevorzugte eine Wahrsagerin, die aus Kiwis las. Vorhersagen aus Kiwis waren frisch und fruchtig. Es waren Vorhersagen mit großer Weite. Die Wahrsagerin konnte fernste Ereignisse prophezeien. Den Kunden aber ging es ewig um das Banale, um das nächste Zeugnis des schwierigen Sohnes oder ob die geplante Schönheits-OP gelingen würde. Da die Kiwis nunmal mit langer Brennweite in die Zukunft sahen, taugten sie für derlei Nahzukunften nicht. Auch diese Wahrsagerin starb verarmt.
Jetzt fällt mir ein, dass vor Jahren mal eine Frau in unserem Block wohnte, die die Zukunft aus Würfeln las. Keinen ganz normalen Mensch-ärgere-dich-nicht-Würfeln, sondern transparenten „razor edge“ Casino-Präszisonswürfeln, die sie in einem Lederbecher verrührte und über ihre gebügelte Tischdecke kullern lies. Waren die Würfel einmal zur Ruhe gekommen, durfte niemand mehr den Tisch berühren, um die erwürfelte Schicksals-Konstellation für die Zeit der Hellseherei nicht zu gefährden.
Ihre Vorhersagen waren ausgesprochen detailreich und pointiert, keinesfalls so verklausuliert und ausweichend wie die vieler ihrer Kolleginnen, trafen aber nur zur Hälfte ein. Zu exakt 50% lag sie völlig daneben. Man musste schon Glück haben, dass sich eine bei ihr gekaufte Prophezeiung fügte. Das war den Leuten, die eine naive Vorstellung von Hellseherei hatten, nicht sicher genug. Sie verarmte und verfiel schließlich der Spielsucht. Eines Tages war sie verschwunden. Niemand hat je wieder etwas von ihr gehört.
Doch, doch. Sie wohnte um die Ecke, in Hamburg, wo ich mal für ein Jahr gewohnt habe. Zumindest hört es sich nach ihr an. Inzwischen las sie aber in Hafenkneipen aus Würfelzucker, auf die man jeweils drei Tropfen Rum träufeln musste. Der Zuckerwürfel löste sich dadurch langsam auf und in der kristallinen Struktur konnte sie etwas sehen.
Sie verdiente ihr Geld damit. Doch leider naschte sie von dem Zucker und wurde im Laufe der Zeit dadurch schleichend alkoholkrank. Sie verlor ihr Geld und verarmte.
Kurz bevor sie völlig in Vergessenheit geraten war, erfuhr ein wohlhabender Verleger, dem sie mal die Zukunft geweissagt hatte, von ihrem Schicksal und beauftragte einen Journalisten, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Das Buch ist im skandinavischen Raum ein Bestseller geworden.
@ Manfred:
Schade, dass die Kiwi-Wahrsagerin schon nicht mehr unter uns weilt. Ich hätte die Lösung für ihr Problem gehabt.
Meine Freundin Maria hat dieses jahr ein Haus in Bottrop erworben in dessen Garten steht ein Kiwi-Baum, der tatsächlich genießbare Früchte trägt. Vielleicht wären die Vorhersagen mit diesen Früchten zeitlich und räumlich näher und damit erfolgreicher gewesen. Vielleicht hätte man ein Joint-Venture draus machen können… leider zu spät.
Oder gibt es vielleicht noch Verwandte der seherin mit gleichen Gaben?
@Kony
Ach, die Marias dieser Welt waren schon immer echte Schätze. Schade, dass die Hellseherin das Naheliegende nicht sehen konnte. Wenn Kiwis in Bottrop wachsen, man stelle sich das nur vor, dann vielleicht auch woanders. Man hätte längs des Meridians Kiwi-Bäume pflanzen können. Sauber beschriftet und nach ihrer Skalierung nebeneinander aufgereiht wäre jedwede Hellseherei möglich gewesen.
Ob sie eine Verwandte hatte, ist mir nicht bekannt. Man sollte auf endoplast.de eine Suchanzeige schalten: „Lokaler Kiwi sucht Hellseherin mit banaler Kundschaft.“
„Banale“ Kundschaft finde ich zu abwertend. Hat sich nicht Ronald Reagan von seiner Frau aus Tee- und Mittagessen-Resten vorhersagen lassen, ob er Russland angreifen oder das nur in einem Film dargestellen wird?
@Ralf
Wäre es möglich, dass sie ihren Verleger geheiratet hat? Auf manchen Schicki-Micki-Partys erzählt man sich von einem reichen Verleger, den man nur noch ungern auf Partys einlädt. Überall lässt er Zucker und Alkohloika mitgehen und verkriecht sich zum Naschen heimlich in dunklen Kammern, obwohl er sich selbst jede Menge davon leisten können müsste. Er selbst soll in seinem Haus aber sowohl Zucker als auch Alkohol verboten haben. Nur schien es ihm schwer zu fallen, sich daran zu gewöhnen.
Der Bremer Schwester der Würfelzuckerwahrsagerin, die allen Firlefanz hasste und gleich aus reinem Wodka las, erging es schlechter. Sie konnte auch aus anderen Spirituosen lesen, aber Wodka bevorzugte sie, weil er einen besonders klaren Blick ermöglichte.
Ihre prozenthaltigen Jenseitskatalysatoren waren ihr aber eine Verführung, der sie nicht widerstehen konnte. So wurde ihr eigener Blick zunehmend getrübt. Je mehr sie trank, desto mehr verwechselte sie die Zukunftsaussichten ihrer Mandanten mit dem Ärger, den sie mit ihrem davongejagten Mann gehabt hatte. So konnte es sein, dass man sie fragte, ob eine Zahnwurzelbehandlung zum jetzigen Zeitpunkt vorteilhaft sei, und sie antwortete, dass der stinkefaule Kerl den ganzen Tag nur lümmelnd vor dem Fernseher vor sich hingestunken habe.
Sie starb, vereinsamt und bitter arm, an einer Alkoholvergiftung. Heute soll sie in Vollmondnächten in den Häusern rundum das Haus ihres Ex-Mannes spuken. Irgendwie schafte sie es nicht, das richtige Haus zu erwischen.
@Ralf
Die Empfehlung der Annektierung Russlands gehört sicherlich zu den weitschweifigen Voraussagen. Keinesfalls banal.
@Manfred
Dass der sie geheiratet hat, habe ich auch schon mal gehört. Ich war auf einer Messe für Zauberer und bekam, als ich mich zur Pause niedergelassen hatte und etwas aß, ein Gespräch vom Nebentisch mit. Dort unterhielten sich zwei Zauberer, dass ein Verleger, der hobbymäßig zaubert, eine Wahrsagerin geheiratet habe.
(Nebenbei gesagt, soll die Ehe zerrüttet gewesen sein, weil sie ihm zu oft die Wahrheit gesagt haben soll.)
Er soll er sie „Rosebud“ genannt haben und in den USA ein irre teures schlossähnliches Haus gebaut haben, das keine Ecken hatte. Auch das Grundstück wurde kreisrund angelegt. Alle Hausteile bestanden aus zylindrischen Bauwerken.
Charles Bukowski, der dort einmal ein Führung mitgemacht hatte, schreibt in einem nachgelassenen Gedicht, dass – als er mit seinem Auto über den Berg zu diesem Anwesen gefahren sei und dieses im Gegenlicht betrachtet habe – es gewirkt habe wie ein riesiges Tablett mit einer Flasche Bourbon und drei Gläsern. Als er den Hausherrn darauf angesprochen habe, sei dieser schwankend wie ertappt rückwärts zu seinem Arbeitszimmer gegangen und habe wortlos die Tür hinter sich zugezogen. Durch den Türspalt habe er aber eine Zehntelsekunde lang Sicht auf einen Chaiselongue gehabt, auf dem eine sehr dünne Frau gekleidet in exotische Stoffe mit Stirnband, Kopfschmuck und allerei Brokat gesessen und eine Glaskugel in der Hand gehalten habe. Ihr rechtes Auge sei durch die Kugel überdimensional vergrössert und ins absurd Rundliche verzerrt worden. Charlie hatte in diesem sehr kurzen Moment den Eindruck, als blicke ihn das Auge durch die Kugel hindurch durchdringend an.
Diese Begebenheit habe ihn nicht mehr losgelassen. Eines Tages, nachdem er bis zum Nachmittag in seiner Wohnung 34 Buddies plattgemacht und dann keinen Durst mehr gehabt hatte, hatte er sich stark genug gefühlt und zum Telefonhörer gegriffen. Er habe, so sagte er mir, im Hause des Verlegers angerufen und aufs gerate wohl gefragt, ob man einem Termin bei „Rosebud“ bekommen könnte. Nach Rückfrage bei der Ehefrau des Verlegers und einer mittellange Wartezeit habe man das bejaht. Er hat überrascht den Termin am nächsten Tag gemacht und bis dahin die noch vorhandenen Sixpacks betreut.
Kurz und gut, er ist hingefahren, in einen abgedunkelten Raum geführt worden, in dem nur ein einfacher Tisch stand und vor ihm sei eine verschleierte Frau mit zeitloser Stimme zwischen schwarzen Vorhängen, die den Tisch kreisrund abgehängt hätten, hervorgetreten. Sie verlangte Vorkasse mit einem zwischen-den-Zeilen-Verweis auf ihre finanzielle Situation, der Betrieb eines solchen Anwesens z.B. zöge hohe KOsten nach sich undsoweiter. Sie habe ihm dann die Zukunft vorhergesagt. Was sie genau gesagt hat, darüber wollte Charlie nicht viel sagen, im Wesentlichen habe sie ihn vor Alkohol und Armut gewarnt.
@Ralf
Ich kann gut verstehen, dass der alte Charlie nicht mit den Einzelheiten rausrückt. Blicke auf das eigene Schicksal können einen ganz schön durchschütteln. Noch mehr als Vorhersagen können Erkenntnisse schocken.
Eine wirklich engagierte Wahrsagerin kann dafür als Beispiel dienen. Sie lebte lange in der Düsseldorfer Altstadt und kapirzierte sich auf das Innerste des Menschen. Die Zukunft vorher zu sagen schien ihr der falsche Weg zu des Menschen Glück. Die größte Erkenntnis läge in einem selbst. Hatte man erst einmal sich selbst erblickt, konnte man mit allem Anderen fertig werden.
Um in das Innere ihrer Mandanten zu sehen, benutzte sie umgestülpte Kuhaugen. Die holte sie sich beim Metzger und präparierte sie mithilfe eines Skalpells für ihre Zwecke.
Ihr Klientel war regelmässig so erschüttert über das Auffinden ihres eigenen Innersten, dass sie entweder demütig wegdiffundierten oder aber voller Zorn die Wahrsagerin verklagten. So viele Klagen prasselten auf sie ein, dass sie paranoid wurde und heute verarmt in einem gemeinnützigen Heim für obdachlose Seherinnen dahin vegetiert.
„Verarmt in einem gemeinnützigen Heim“? Ich denke, sie sollte da zwar wohnen aber – versteckt, ohne dass das jemand weiß – eine Millionärin oder Milliardärin sein. In einem anderen Teil der Stadt hat sie eine Zweitwohnung, die sie für ihren 18jährigen Liebhaber gekauft hat. Allerdings ist sie Besitzerin der Wohnung.
Sie fährt auch hin, um ausgiebig zu duschen, um in Eselsmich zu baden und sich mit Rosenöl einzuölen. Außerdem empfängt sie reiche Leute, denen sie die Zukunft vorhersagt. Wenn sie ins Wohnheim zurückkehrt wäscht sie sich den schönen Duft ab, schmiert sich mit Linola-Salbe und Issey Miake-Parfüm ein, um übel zu riechen. Auch dort hat sie arme Leute, denen sie die Wahrheit vorhersagt. Sie tut dies im Bewußtsein, eine Betrügerin zu sein. Denn sie hat keine übersnnlichen Fähigkeiten.
Abends fällt sie ins Bett, hat wilde Träume von sich als Betrügerin, die in einer Grube gesteinigt wird, weil die armen Leute erfahren, wie sie sie hintergeht. Außerdem träumt sie in übersinnlichen Anwandlungen, von denen sie selbst nichts ahnt, die Zukunft all jener Leute, die sie vor sich hat sitzen gehabt. Diese Träume werden wahr und zeigen ihr die tatsächliche Zukunft aller Personen, die sie jemals besucht haben.
Um das aushalten zu können, greift sie zur Flasche. Das und ihr Liebhaber, der an die Daten ihrer Bankverbindungen kommt, ruinieren sie. Sie verarmt und leidet währenddessen an ihrer unbewußten Befähigung, die ihr wie ein Fluch vorkommt.
Sie hatte womöglich zwei Heime, weil sie schizophren war. Die eine Persönlichkeit konnte hellsehen, wollte es aber nicht zugunsten des Hervorkremmpelns des Innersten.
Ihre andere Persönlichkeit war ein Scharlatan und ist damit reich geworden.
Wenn sie schlief spielte ihr Gewissen verrückt, denn sie hatte zwar zwei Persönlichkeiten in sich, unangebrachter Weise aber nur ein Gewissen, dass mit allem fertig werden musste.
Also nee: „Persönlichkeitsspaltung“, das geht gar nicht. Beim Schreiben gibt es immer zwei Auswege: Träme und Persönlichkeitsspaltung. Da mußt Du Dir schon was anderes einfallen lassen.
Die zwei Heime könnten bleiben. Und es gibt eine Zwillingsschwester. Sie tauschen ihre Heime öfters und machen sich einen Spaß daraus. Die eine Schwester kann tatsächlich in die Zukunft blicken. Die andere nicht.
Die Zwillingsschwestern tauschen, wo es praktisch ist, ihre Männer, wodurch manche Zukunftsvorhersage durcheinander gerät.
Und die Männer haben jeder auch noch einen Zwillingsbruder.
Und von den Männern konnte auch nur jeweils einer in die Zukunft (oder Vergangenheit?) sehen. So selten ist das nicht, wie folgende Anekdote bestätigt:
Eine Hellseherin, die ich mal gut kannte, las aus dem frisch gefallenen Schnee. Ursprünglich war das ein gutes Konzept. Im Winter hart arbeiten, im Sommer ausspannen. Da einerseits immer seltener Schnee in unseren Breitengraden zu liegen kam und andererseits ihre Klienten es vorzogen, es in gut beheizten Räumen geweissagt zu bekommen, floh sie nach Alaska.
Dort wurde sie, durchfroren und ohne Proviant, von Eskimos gerettet und in einem Iglo aufgenommen. Zuerst lernte sie, mit blossen Fingern Fische aus ins Eis geschlagenen Löchern zu schnappen. Dann, Fische auszunehmen. Dann, Fische zu garen ohne dass das Iglo schmolz. Schließlich erfuhr sie, wie man in den Grätenresten der Mahlzeit die Zukunft fand. So wurde das in jedem Iglo betrieben. Für sie aber war die folkloristische Verbreitung der Weissagungskompetenz so eine Enttäuschung, dass sie die Hellseherei aufgab. Sie zog dort wieder weg und redetet nur noch schlecht über Eskimos, weswegen sie für Schrullig gehalten wurde. Aus diesem Grund flog sie schnell aus jedem Job, egal ob als Würstchenverkäuferin oder Maniküre.
Heute soll sie als böse Hexe im Schongauer Märchenwald arbeiten. Dort ersetzt sie ein in die Jahre gekommenes Mechanikpüpchen und spricht dreißig mal am Tag den selben Satz. Ich weiß nicht, ob das stimmt, war selbst noch nicht dort.
Ich bin sehr froh, dass diese letzte Wendung ohne Verarmung auskommt.
Das Mechanikpüppchen ist ein Minikuckuck, der aus einer Kucksuhr herausfährt, zu jeder vollen Stunde, also leider nur 24 mal am Tag.
Mir ist noch eingefallen, dass ich tatsächlich mal eine Hellseherin kannte, die arbeitete bei Bonn. Sie las ebenfalls die Zukunft aus Eis oder Schnee, war organisatorisch nach einer Anlaufphase auch nicht das Problem. Das Problem war, dass sie nicht sicher war, ob ihre Vorhersagen eintrafen. Jedesmal nach einer Sitzung war sie bis in ihre Grundfesten zutiefst verunsicht und darüber, dass sie so verunsichert war, zutiefst erschüttert, was sie in Umtrünken in der Eckkneipe „Zur Boje“ wegtrank.
Dann, eines Tages – sie war im Urlaub in Spanien – saß sie alleine an einem Sanstrand und ließ den Sand durch die Finger rieseln. Da bemerkte sie, dass hinter dem rieselnden Sand diffuse Bilder auftauchten. Wenn der Sand zuende gerieselt war, waren auch die Bilder weg. Sie widerholte dies immer und immer wieder und bemerkte, dass die Bilder die Zukunft dessen zeigten, an den sie gerade gedacht hatte. Dies stärkte ihr Selbstbewußtsein ins schier Unermessliche.
Nach ihrem Urlaub, war die Umstellung von Eis auf Sand für ihre Kundschaft ein Kulturschock, der vielerorts therapeuthisch aufzufangen war. Auch geriet sie, die Jahre lang behauptet hatte, nur das Eis sei der Weggefährte der Wahrheit, in Erklärungsnot. Dies war eine absurde Situation, denn nun sah sioe die Zukunft tatsächlich und war sich dessen auch sicher, aber die Kunden glaubten ihr nicht mehr. Die Feindseligkeit ihrer Kundschaft machte sie depressiv, die Visionen des rieselnden Sandes blieben aus.
Auf dem Tiefpunkt griff sie ein letztes Mal in ihre Sandschatulle und ließ den Sand für ihre eigene Zukunft rieseln. Darin wurde sie gewahr, dass sie in der nächsten Woche, um sich abzusichern, all ihr schlecht verzinstes Geld von ihren Sparbüchern und Festgeldkonten abheben würde, um es in hochverzinsliche aber risikobehaftete Wertpapiere zu stecken. Sie sah durch den Sand hindurch eine Weltwirtschaftskrise heraufziehen, sah sich ihr gesamtes Vermögen verlieren und vollends dem Alkoholismus verfallen.
Da sprang sie auf, kaufte für ihr gesamtes Vermögen Gold, fuhr damit zu einer Goldscheideanstalt, ließ alles Gold einschmelzen und in einem geheimen Spezialverfahren aus dem gesamten Goldbestand Garn knüpfen. Aus diesem Garn knüpfte sie sich eine Matratze. Sie hatte in einer weiteren Vorhersage gesehen, dass ein Einbrecher in ihre Wohnung gelangen und unter der Matratze nach Geld suchen, nicht aber bemerken würde, dass die Matzatze selbst ihr Reichtum war.
Immmer wenn sie Geld brauchte, zog sie an einem Faden, spulte ihn auf eine Rolle und verkaufte sie. So lebte sie bis an ihr Lebensende wohlhabend und abstinent.
Ich kannte einmal eine Wahrseherin, die hat sich gefragt, wer denn was davon hat, wenn sie ihm die Wahrheit sagt. Wer will denn die Wahrheit wissen? Ihr etwa? Klar, wenn sie sagt, „super was du machst“, stört sie das nicht, aber was, wenn sie sagt: „du wirst das, was du willst, nicht kriegen“. Gbst du es dann auf? Und wenn ja, hast Du es dann wirklich gewollt? Wer sagt schließlich, dass sie die Wahrheit sagt? Oder wie bei den alten Griechen: „Du wirst Deinen Vater umbringen“. Bekanntlich war der Versuch dem auszuweichen, tödlich für Papa. Deshalb hat sie ihre Wahrheit für sich behalten und starb verarmt. :)
Da hast Du Recht. Daran zeigt sich generell die Krux an Vorhersagen. Sind sie positiv, beflügeln sie, sind sie negativ, können sie verhindern oder demotivieren.
Am besten, man kennt die Zukunft nicht. So besteht immer Hoffnung. Eine kluge Wahrsagerin ist vermutlich sowieso eher intuitive Einfühlerin und Psychologin…?
Wirklich, nicht jeder braucht Wahrsagereien.
Mein Schwager berichtete mir glaubhaft von einer Wahrsagerin, die auf den Halligen praktizierte. Dort lebten überschaubar wenige Menschen, die, jeder für sich, so wenig Zukunft hatten, dass die Wahrsagerin verarmte und Sozialhilfe beantragen musste.
In der Geschichte der Halligen, die traditionell auf Familienzusammenhalt und Nachbarschaftshilfe setzten, war sie die erste. Bis dahin bestand das Sozialamt, um formellen Anforderungen zu genügen, lediglich aus einem verwaisten Postfach. Für die Wahrsagerin hätte man nun ein eigenes Amt bauen müssen. Ein Gebäude errichten (oder kaufen oder enteignen), einen Beamten abstellen (die Abwesenheit von Beamten war aber der einzige vernünftige Grund, überhaupt auf den Halligen zu leben), bürokratische Hindernisse erfinden(wozu ein zweiter tüchtiger Beamter als Vorausgesetzter des ersten notwendig wurde). Darüber hinaus hätten die Einheimischen herauskriegen müssen, wo die ganzen Steuergelder eigentlich lagerten. Das war den Einheimischen zu viel.
In einem konspirativen Akt der Selbstjustiz konfiszierten sie der Wahrsagerin, als sie unbedacht unterwegs war, ihren Wohnungsschlüssel. Das nächste reguläre Landunter spülte die Wahrsagerin, die sich in kein Haus retten konnte, hinweg. Heute will sich niemand daran erinnern können, dass sie jemals dort gelebt hätte.
Ein Beispiel für eine Wahrsagerin, die Suratis Einwand ernst nahm, soll hier nicht fehlen:
Eine junge Wahrsagerin diagnostizierte die Zukunft aus frisch gepresstem Karottensaft. Sie war ein optimistisches Wesen und wollte nur frohe Botschaften anbieten. Deshalb verschwieg sie alles Leid, das sie sah und schmückte das Gute, von dem es in allen Zukunften immer weniger gab als vom Schlechten, blumig aus.
Als sie einem griesgrämigen Mann, dem in seinem Leben alles schiefgegangen war, wahrsagen sollte, konnte sie nicht das kleinste Schöne in seiner Zukunft finden, das sich mittels ihrer Ausschmückungen in eine motivierende Botschaft verwandeln lies. Seine Zukunft war so furchtbar, dass sie nicht hinschauen mochte. Dieses Schlechte wollte sie ihm niemals erzählen, denn er war schon geschlagen genug.
Der griesgrämige Mann war hartnäckig und bestand, denn er hatte nichts mehr zu verlieren, auf seiner Vorhersage. Er schwor, ihren Tisch nicht zu verlassen, bis sie ihm die Wahrheit über seine Zukunft sagte. Da sie dass nicht über sich brachte, hockten die beiden sich fortan im Wohnzimmer der Wahrsagerin gegenüber und schwiegen sich an, bis ihre Lebensmittel verbraucht waren. Dann ging es langsam mit beiden zu Ende.
„Das habe ich nicht vorhergesehen“, war der letzte Satz der Wahrsagerin.
Boey, kennt ihr aber viele Wahrsagerinnen.
Natürlich. Du kennst doch bestimmt auch eine? Erzähl uns von ihr.
Nö, ich kenn keine :-(
Vielleicht könnt Ihr mir mal eine vorstellen…
@Ruhri
Kann dich gerne mit einer bekanntmachen. Du kannst aber auch „Wahrsagerin“ und deinen Ortsnamen bei google eingeben, um etwas in deiner Nähe zu finden. Es gibt übrigens nicht nur Frauen, es gibt sogar hellsichtige Männer, wie diesen hier:
Ein anderer Wahrsager war Pfarrer und musste sich geißeln, wollte er einen Blick in die Zukunft werfen. Das Geißeln blieb nicht unbemerkt und so machte er schnell Karriere. Zuerst Bischof, dann Kardinal.
Auf den oberen Karrieresprossen brachte ihn die Selbstgeißelung nicht weiter. Hier musst er lernen, Seilschaften zu bilden und Verrat zu begehen. Das gelang ihm vorzüglich und so heilte sein wundgegeißelter Rücken alsbald völlig aus.
Wie er so gar nicht mehr in die Zukunft sah, entging ihm eine Verschwörung, die von seinen Verbündeten gegen ihn ausgeheckt wurde.
Seitdem scheut er die Öffentlichkeit und tut Buße in einem zurückgezogenen Bergkloster.