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Marmorkuchen: Der explosiv durchdrungene Heilig Abend

Wieviele Stücke musst Du essen, um zu begreifen? Die Summe aller Stücke ist mehr als ein Wohlgenuss. Jede Scheibe mit ihrem leicht variierten, veränderten Motiv sagt Dir, dass unter der Oberfläche ein Atompilz lauert.

Je nachdem, wie man’s nimmt, war ich müde oder erschlafft, blickte auf den Boden oder umher oder stierte irgendetwas Anderes an, und dann passiert es immer: Ich sehe zum Beispiel in den Blasen der Schaumkrone eines Bieres ein Tier oder in den Falten des Rockes der Kellnerin ein Gesicht. Der Mensch ansich deutet gerade in kleinteilige Strukturen einen Sinn hinein.

Filtern, um zu überleben
Der menschliche Geist ist so beschaffen, allem eine Sinn, einen verständlichen Zusammenhang, eine Ordnung zu geben. Man versucht einfach, das visuelle Chaos zu reduzieren. So entstehen Bedeutungen, wo ursprünglich gar keine vorhanden waren. Das ist der wahrnehmungspsychologische Ursprung aller Religion, auch aller Esotherik.

Vom Kuchen zum Rest der Welt
So ging es mir am Heiligen Abend. Vor mir auf dem Tisch ein angeschnittener Marmorkuchen. In dem Kuchen erblickte ich in Form von gelbem Teig einen meine Wahrnehmung dominierenden Atompilz. Das ihn umgebende Schoko-Medium mit seiner dunklen Konsistenz schien einen diabolischen Kontrast dazu bilden zu wollen.

Robert Oppenheimer widmete sein Leben der Entwicklung der Atombombe innerhalb des Manhattan-Projektes in Los Alamos. Angesichts der Atomexplosionen in Japan während des 2. Weltkrieges änderte der Vater der Atombombe seine Meinung und war fortan gegen Aufrüstung und unkontrollierte Atomenergie. Ein Schicksal durchdrungen vom Pakt mit dem Teufel.

Während wir dasaßen und stoisch dem Fest entgegen sahen, dachte ich an meine Großmutter, die immer zur Herbstzeit essbare Pilze sammelte, die rund um Birken wuchsen. Ich sammelte in dieser Zeit einmal Bildchen, die ich in ein Sammelalbum einklebte. Es trug den Titel „Die 360 besten Atompilz-Fotografien“.

Kuchen als Friedensbotschafter mit unbeabsichtigt negativem Phenotyp
Der Kuchen ist ansich unverdächtig. Er ist kein Agressor, ich brauche keine Angst vor ihm zu haben, kann ihm also vollends entspannt entgegen blicken. Aber er verkörpert durch einen Zufall einen Assoziationsentfacher, der Bilder von Schreckensexplosionen entstehen läßt. So ähnlich, als begegnetest Du dem UN-Friedens-Botschafter, und als er Dir die Hand reicht, siehst Du auf seinen Knöcheln „Hate“ eintätowiert.

Der Atompilz schiesst in die Höhe und bombt das Menschsein in die niedersten Niederungen des Nicht-mehr-Seins. Bestenfalls mit einem strahlenden Lächeln aus einem Loch in der Erde blickt man dann der Zukunft entgegen.

Auf die Frage „Schmeckt’s Dir?“ habe ich ein verkautes „Ja“ entgegnet. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass sich alle sofort real oder zumindest symbolisch auf den Boden schmeißen sollten, weil ich im Antlitz des Marmorkuchens eines Meta-Atompilzes angesichtig geworden war?

Dies hätte für Belustigung gesorgt.
Hätte auch nur ein einziger innerhalb der Weihnachtsgesellschaft den Ernst besessen, sich mit meiner Zufallsvisualisierung und ihrem bedenkenswerten Hintergrund auseinanderzusetzen? Wer hätte dasselbe gesehen und den Kuchen partout nicht mehr essen können? Wem hätte der Kuchen zumindest nicht mehr geschmeckt? Wer hätte ihn dennoch heruntergewürgt? Hätte ein anderer in irendeinem Winkel des Essens das Antlitz Jesu‘ erblickt und dieses positive Bild gegen meines gesetzt?

Heilig Abend denke ich an Explosion und Strahlung. Ein Rorschach-Test. Ein "Woher" und "Warum" denke ich nicht. Jedes Stück Marmorkuchen sehe ich länger an, als dass ich es esse. Eine Art Kaffee-Satz-Leserei mit radiopassiv-radiologischem Charakter.

Bleibt die Frage, ob es andere Essensarten oder gar Tageszeiten oder Anlässe oder Feiertage gibt, die ähnliche Monströsitäten gebären, die deren Aufenthalts-Wahrscheinlichkeit zumindest erhöhen könnten.

Unser Weihnachtsfest: Zerplatzte Metaphorik
So wie ein Kind Seifenblasen macht, die schillernd oszillieren, um dann zu zerplatzen, produziere ich Vorstellungen, die durch äußere Reize ausgelöst werden. Vor allem zu Weihnachten, einem Fest, das mit Symbolen und Symbolhaftem überfrachtet ist. Das bezüglich des Weihnachtsmannes und des Tannenbaumes mit harten, komplementären Rot/Grün-Kontrasten arbeitet oder im Falle des Marmorkuchens mit einem derart gespreizten Kontrastumfang, das man schon ohne Bilder darin die hell-strahlenden bzw. düster-dunklen Platzhalter für Himmel und Hölle erblicken kann.

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