Er guckt den Leuten ins Gesicht wie ein erfahrener Gastronom. Er kennt die Menschen, das Leben. Dave scheint praktisch alles zu wissen. Jetzt sieht er mich an. „Na, alles klar?“ Ich nicke mit vollem Mund. Ein Fehler, jetzt weiß er, dass gar nichts klar ist. Er stellt sich an meine Ecke, plaudert belanglos weiter. Dave macht ein Bier auf, fragt mich noch mit der Flasche an den Lippen, ob ich wisse, was „Uneigentlichkeit“ sei. „Doppel- oder Mehrdeutigkeiten“, murmel ich in mein Essen hinein, mehr so, als spräche ich zum Essen.
Heimat: Der doppelte Boden des Kafkaesken
Er fragt mich, was mir meine Heimatstadt bedeutet, ich blicke überrascht hoch. Was soll das jetzt? Eine Heimatstadt in dem Sinne…? Ich lebe eher in einem Gewimmel, unterwegs von Stadt zu Stadt. Dave schmeisst ne neue Ladung Acrylies in die Acryleuse. „Kennst Du die verschiedenen Bedeutungsebenen bei Kafka?“ fragt er über das Brutzeln hinweg. „Na klar“, sage ich. „Broyard“? fragt er. „Jau“, sage ich, „bin ein Kafka-Groupie.“ – „Oder eine Soße“, sagt Dave.
Bedeutungsebenen der Verschriftlichung
Er verunsichert mich. In der Auslegung der heiligen Schrift, spricht man vom vierfachen Schriftsinn, deshalb können Bücher für unterschiedliche Leser sehr Unterschiedliches bedeuten, so funktionieren auch die alten Asterixe und Obelixe. Man kann die Bibel wörtlich lesen, wie ein sachliches Geschichtsbuch, man kann sie als religiöser Mensch theologisch-glaubensmäßig deuten, als moralische Handlungsanweisung für sich selbst nehmen und als Buch, das etwas beschreibt, über das man sehr wenig oder gar nichts weiß: Die Zukunft, das Jenseits, die Endzeit. Ich sage das Dave. Ich sage ihm, wie unterschiedlich man auch eine Stadt wahrnehmen kann, in der man lebt. Der vierfache Schriftsinn ist eng verbunden mit religiösen Ausdeutungen aber wenn man „religiös“ durch ein „transzendental“ ersetzt, lässt sich der Multischriftsinn vielleicht besser auf die eigenen Lebensumstände ummünzen.
Immer wenn er Nahrung nahm
Ich langweile Dave damit, er weiß das alles natürlich schon, er könnte es sozusagen erfunden haben. Seine Pommesbude ist ja eigentlich auch etwas anderes als nur ein Frittenverschiebebahnhof, das Ding ist ein Ort des Geistes, eine Art fettiger Diskurstempel. Er hat Soßen der Woche, die zum Beispiel „Anna Livia Plurabelle“ heißen oder eine helle Soße, die aber innen dunkel ist, die „Broyard“-Soße eben. Dave fixiert mich: „Willst du jemand anders sein? Es wäre kein Problem, Du bist eigentlich schon mehrere Personen. Laß’ dich mal von vier Leuten beschreiben. Du wirst Dich wundern, jeder hat ein anderes Bild von Dir.“
Was eine Pommesbude alles sein kann
Hatter Recht, ich habe aufgegessen. Ich verlasse Dave’s Diner vierfach gespalten, die Pommesbude, den Ort der Erleuchtung, das Moralberatungsstudio und den Ort, an dem ich vermutlich eines fernen Tages lebensmittelvergiftungsmäßig dahinscheiden und 10.000 Jahre als Geist in der Profi-Dunstabzugshaube leben werde. Dave lächelt mir hinterher. „Das Wesentliche, mein Junge, vollzieht sich unter der Dunstabzugshaube“, als hätte er geraten, was ich gerade gedacht habe. Ich schlendere pommesschwanger nach Hause, es ist früh dunkel geworden, ein fahler, vor Wolken milchiger Mond leuchtet mir sozusagen Heim. So wie sein Licht die Nacht erhellt, muß ich für mein Leben einen Sinn suchen. Dabei kann das, was ich für den Sinn halte, gleich einiges mehr und unter Umständen etwas ganz anderes bedeuten, weil ich es nicht sofort sehen kann. Jetzt wird mir wieder bewußt, warum ich so gerne zu Dave essen gehe.