Ist es nicht eigentlich seltsam, alte Orte der Arbeit – Zechen, Stahlöfen, Walzwerke, Fabriken oder sonstige Zeitzeugen der Industrialisierung – zum Ort von Kultur zu machen, und das Ganze auch noch „Industrie-Kultur“ zu nennen, wo doch Industrie immer und überall das direkte Gegenteil von Kultur war, geradezu ihr Feind?
Aus der Not eine Tugend: Das Ruhrgebiet und sein Bettgeschichte mit der Industrie
Industriekultur gibt es nicht nur im Ruhrgebiet aber so massiert wie hier, tritt sie andernorts kaum auf. Das Ruhrgebiet hat das Unmögliche geschafft und als Kain und Abel, Industrie und Kultur zusammengebracht. Wie ging das? Ist ihm nichts Besseres eingefallen? Komme ich nach München, erwarten mich großzügige offene Plätze, Denkmal-Hingucker, architektonisch eindrucksvolle Zeitzeugen. Das alles, inklusive der Staatskanzlei, wirkt beeindruckend, als sei es völlig logisch, dass der Mensch als Krone der Schöpfung lustwandeln soll in einem ihm gemäßen Ambiente. Das kommt verhalten stil- oder ganz klar prunkvoll daher. Und das Ruhrgebiet als Malochersozialisationsdurchlaufgemütserhitzer, das in seiner Gänze immer wieder als nordrheinwestfälisches Einheitsstück diskutiert und dargestellt wird, und solchermaßen weitaus größer wäre als München oder Berlin? Warum muß man immer betonen, dass es hier auch schöne Ecken gibt? Ganz einfach: Das Ruhrgebiet ist entstanden als eine Zusammenrottung von Fabriken und Arbeitskräften, Hunderttausenden, Millionen, mehreren Generationen von Menschen, die viel arbeiten wollten, weil sie mußten, um vor, zwischen und nach den Kriegen leben zu können, sich etwas, wie man so schön sagt, „aufzubauen“. Die Traditionen des Ruhrgebiets liegen in der Arbeit begründet, kulturelle Wurzeln konnten sich nicht entwickeln oder wurden zerbombt.
Die Verkreisung des Quadrates: Schweiß anstatt Eau de toilette
Viele kamen, die seit Generationen nichts anderes kannten als hart und lange für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Damals, das waren übrigens noch die Zeiten, als es einen Zusammenhang zwischen Sein und Tun gab. Wo im Verhältnis zu heute im Strukturwandel weniger geredet und mehr mit angefasst wurde. Zumindest im Ruhrgebiet, während im Süden schmerbäuchige, lederbehoste Weisswurstesser im Biergarten saßen und in einer vollends unverständlichen Dialektik über Preussen witzelten.
Lange vor der zur Erblindung führenden Sozialfusion: Als der Feind noch sichtbar war
Viele Ruhrgebietler waren so genannte einfache Menschen, mit einfachen Vorstellungen und Begriffen von Musik, Tanz und bescheidenen Lebensumständen. Sie organisierten sich selbst, in Gewerkschaften, natürlich meist in kommunistischen und sozialdemokratisch orientierten Parteien. Politisches Sammelbecken für sie wurde bald die SPD, die nicht von ungefähr auch jahrzehntelang die politschen Geschicke des Ruhrgebiets beeinflußte und lenkte. Damals war völlig klar, wo unten und oben und wer der unterdrückerische Feind war.
Der Bergmann: In der Hölle gebrutzelt, das ergibt einen schönen Teint
Oft habe ich über die Jahre den Allgemeinplatz vom Kulturpolitiker gehört, der nichts galt in der eigenen Partei. Auch das kam nicht von ungefähr. Die Politik, die Gewerkschaften und natürlich die Arbeiterschaft selbst dachte in simplifizierten kulturellen Begriffen. Die Horizonte waren eng. München? Berlin? Paris? Das waren andere Welten. Das Ruhrgebiet, das war damals Herr der Ringe: So wie die monströsen Orks im Untergrund aus der Erde gebacken wurden, entstieg der Kohlekumpel mit schwarzem Gesicht dem Hades-Flöz.
Das Ende des Stolzes: Die Arbeiterschaft und ihre Titanic-Reise zum Wohlstand
Die Arbeiterschaft war durchdrungen von Stolz, aber worauf? Auf ihre schiere Arbeitskraft. Auf ihren Fleiß. Davon profitierte das ganze Land. Hier wurden die Waffen produziert, die Kohle als dominanter Energieträger gefördert, die ganze Industriezweige – allen voran die Stahlproduktion – möglich machte und am Laufen hielt. Was sollte da Kultur? Wo sich andernorts ambitionierte kulturelle Traditionen in Architektur, bildender Kunst und Weltauffassung herausbildeten, entwickelte sich im Ruhrgebiet die Tradition der Arbeit, voll Romantik und Pathos, fast als Gegenbegriff zu elitären Konzepten des menschlichen Seins. Die kleine Völkerwanderung, die hunderttausende Arbeitskräfte ins Ruhrgebiet gezogen hatte, wollte erstmal gehandhabt werden, da ging es nicht ums Detail sondern darum, schnell Mieteinheiten zu schaffen. Woanders hatte man ein Menschenbild, das geprägt war vom Menschen und seinen Traditionen. Im Ruhrgebiet schlug man aus Stein ein Menschenbild des Entwurzelten, das geprägt war von Arbeit. Die dazugehörige Kultur hieß „Arbeiterkultur“. In St. Tropez hieß es, das Meer betrachten und sowohl flach als auch nonchalant einzuatmen, um der frischen Luft Heimstadt zu bieten. In Gelsenkirchen hieß das Pendant „Staublunge“ und war nur der Anfang vom Ende.
Der alte Kulturbegriff: Auslaufendes Modell kurz vor Toresschluß
Das kultige Jahr 2010 treibt eine Region um, die sich ein Jahr lang „Kulturhauptstadt“ nennen darf. Eine Region wurde für ihre Vielfalt belohnt, vielleicht auch für den dreisten Mut, olle Industrieanlagen zum Kulturgut zu erklären. Das ist ein bißchen so, als wollte der Teufel seine lodernde Hölle als den besseren, den eigentlichen Himmel schönreden. Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 ist ein Aufmucken der Schmudelkinder aus dem Ruhrpott. Allerdings hat man das schnieke Essen vorgeschickt, Energiehauptstadt Europas und strukturwandelnde Dienstleistungs- und Bürokratenverwaltungshochburg. Die Sache mit der Industriekultur mutet an, wie die Karikatur des ursprünglichen Zweckes, schöne historische Baudenkmäler für die Allgemeinheit zu erhalten. Wo eben andernorts klassizistische Prunk- und Vorzeigebauten den Ästheten ergötzen, sind es im Ruhrgebiet oft uncharmante Betonkolosse oder Dinge, die „(größtes) Gasometer (Europas)“ oder „Zeche Zollverein“ heißen. Die Yuppidinkis findens schick, Prosecco zu schlürfen, wo früher der Oppa gerackert hat. Einfach ein schönes Gefühl, innerhalb des ehemaigen Zentrums der Arbeit zu sitzen und mit jedem Schluck des prickelnden Gesöffs zu spüren, wie fern man der körperlichen Seite der Arbeit glücklicherweise doch inzwischen ist. Eine Art Sicherheitsabstand, der in tsunamimäßigen Wellengebirgen Schauer über den arbeitsfremdelnden Rücken der Angestellten sendet. Sicher, die Zeche Zollverein ist ein Weltkulturerbe, aber man sollte nicht nur die Architektur in den Vordergrund rücken, sondern sich auch vergewissern, dass hier der harte Wind der körperlichen Plackerei pfiff und nicht das zarte, pafümierte Lüftchen der Semperoper.
Häää? Oder: Warum die Ruhrgebietspolitik die Kultur nicht verstanden hat
Kultur wurde im Ruhrgebiet nie als Wert an sich sondern immer nur als Mittel zum Zweck angesehen, ein schnöder Standortfaktor, ein ungehört souflierender Begleiter des taumelnden Strukturwandels. Kulturpolitik und Kulturpolitiker waren im Ruhrgebiet immerschon das hinterletzte, weil Kultur als unwichtig galt. Nur die harten Standortfragen zählten. Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen, war schwach ausgeprägt. Weil mans nicht anders kannte. Nur so war man in der Lage, aus der Not eine Tugend zu machen: Die Stätten der Arbeit, die ein engmaschiges Netz bildeten und so dominant waren, wurden umfunktioniert als Verkörperungen von Architektur, von Arbeits- und so genannter Industriekultur. Sie wirken manchmal in ihrem Bestreben, dem Vergangenen zu huldigen, wie Götzentempel. Wer hier und da eine Ausstellung, wie sie immer mal wieder innerhalb eines dieser vielen Industriedenkmale stattfindet, besucht hat, sieht dort ehemalige Arbeiter, die hier ihr Berufsleben verbracht hatten und der mitgebrachten Verwandschaft darüber berichten, was wo wie früher war und welche Funktion es hatte – und welche Funktion sie hatten. Sie sind in Gedanken immer noch hier, hier haben sie einen beträchtlichen Teil Lebenszeit zugebracht. Das schmiedet zusammen und schafft grundsätzliche Akzeptanz der Industriekultur im Ruhrgebiet.
Wie die Jungfrau zum Kinde? Wie das Ruhrgebiet die Kulturhauptstadt auffasst
Als das Auswahlverfahren begann und Essen als Stellvertreter für das gesamte Ruhrgebiet die Kürung zur Kulturhauptstadt 2010 entgegen nehmen sollte, konnte man sehen, wie allerorts – aber speziell in Essen – eine hastige Betriebsamkeit Einzug hielt. Es war vieles aus dem Boden gestampft worden: Ein völlig neuer Saalbau, eine Philharmonie, die einige Jahre lang mit Geld nur so um sich werfen durfte, bis der Inendant geschasst wurde, Und dann noch ein völlig neues Ruhrmuseum auf Zollverein und noch ein neu erstandenes Folkwangmuseum am alten Ort. Sogar die Straßenbahnlinie 107 war für eine Überraschung gut: Jahrelang hatte ich in ihr täglich auf harten Sitzen gesessen und mußte hilflos mit ansehen, wie sie sich plötzlich „Kulturlinie“ nannte, mit speziellen Durchsagen sowie bestückt mit Aufklebern über den ehemaligen Ausstiegsluken, auf denen architektonische Highlights beschrieben wurden. Ungefähre Aussage der Aktion: An jeder Haltestelle Architektur pur. Upps, war ich all die Jahre blind durch die Gegend gelaufen oder verkaufte sich hier eine Stadt in Form ihrer Nahverkehrsgesellschaft besonders detailverliebt? Plötzliche Kultur, um die Auszeichnung zu bekommen? Oder die Auszeichnung wegen der geballten Kulturlandschaft im Ballungsraum Ruhrgebiet, das jahrelang im Eigenmarketing mit Grossräumen wie London verglichen wurde, was aber knapp an der eigentlichen Sache vorbeiging. London und Paris, Istanbul oder Madrid wachsen und wachsen – das Ruhrgebiet aber schrumpft.
Bewußtseinsverändernde Kulturpolitik – kann man die rauchen?
Wird das Jahr der Kulturhauptstadt das Ruhrgebiet in den Köpfen der Menschen, die dort wohnen, verändern? Werden sich Kulturverständnis und Kulturbegriffe ändern? Oder war alles nur eine Marketingmaßnahme, um den Standort attraktiver erscheinen zu lassen? Wird Kultur wie selbstverständlich ein Begleiter des Lebens und nicht nur der Arbeit sein? Haben am Ende die Bemühungen der „Internationalen Bauausstellung“, die die Industriekultur im Ruhrgebiet salonfähig gemacht hatte, die „Route Industriekultur“, eine Art Wanderweg der Sehenswürdigkeiten oder die „Nacht der Industriekultur“, ein das gesamte Ruhrgebiet umspannender Veranstaltungsmarathon jeweils in einer Sommernacht, am Ende sogar etwas bewegt oder vorbereitet? Werden Ruhris am Ende morgens aufwachen und sich nicht nur fragen, „lebe ich noch?“, sondern darüber hinaus „Bin ich noch von Kultur umgeben?“, wie es für jeden Wiener oder Amsterdamer eine Selbstverständlichkeit ist?
Der Fight: Elitäre Konzeptionen gegen platte Volkstümeleien
Es gibt die Einlassungen von Basiskulturschaffenden, dass mit Publikation des Programmes der „Kulturhauptstadt 2010“ wieder nur gigantomanische Oberflächenevents, Mainstream halt, gefördert und medial befördert würden: Eben schwerpunktmäßig das Etablierte, das Volkstümliche, die „Nummer Sicher“, die den Begriff der Metropolenweltstadtanwartschaft transportieren soll. Da ist was dran, dennoch kann sich das allgemeine kulturelle Bewußtsein durch die schiere Breitenwirkung, die Selbstverständlichkeit zelebriert, ändern. Das ist der Führerschneehundtouristeneffekt: Im Falle einer Lawine werden alle, tatsächlich alle, mitgerissen. Man kann sich einfach nicht dagegen wehren.
Risiken und Nebenwirkungen
Wird sich sogar im Kulturverständnis der Politik etwas ändern? Wird sich der Ruhri am Ende dazu versteigen, Kultur in jedweder Form habe ihn immer schon umgeben? Es ist wie in einem guten Fernsehkrimi: Die Auflösung kommt zwangsläufig leider erst ganz am Ende – sonst ist es nicht spannend. Das auch Interessante beim Projekt „Kulturhauptstadt 2010“ wird sein, wie dieses Großereignis langfristig auf das Ruhrgebiet einwirken, welches Veränderungspotenzial es haben wird.
Fazit: Dicke Bretter stören sehr
Wer lang anhaltend kulturbegriffsstutzig ist, hat irgendwann ein dickes Brett vor’m Kopf. Das Ruhrgebiet wird eine Culturalical Correctness massenkompatibel auf den Weg bringen, damit das Brett dünner wird. Kann das gutgehen? Auch angesichts der üblichen Sparmaßnahmen, die gerade alle wieder umtreiben? Mal sehen…
3 Responses to “Die Überhauptstadt: Cooltour-Ruhrgebaet2010”
[…] Ruhrgebiet: Eine Reise ins Nirwana der Allgemeinplätze … endoplast […]
[…] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von KH2010, Endoplast erwähnt. Endoplast sagte: Wie tickt die #Kulturhauptstadt #2010? http://is.gd/579fZ […]
[…] ist: Zu Fuß auf einer Autobahn umherzuschlendern oder ‘rumzuwimmeln. Ein Ergebnis des „Kulturhauptstadt-Ruhr-2010“-Projektes „Still-Leben Ruhrschnellweg“. […]