So sehen meine Telefonskizzen aus. Gedankenverloren zeichne ich seltsame Gesichter. Was mag sich dahinter verbergen? Leider habe ich eine gewöhnungsbedürftige Angewohnheit: Wenn ich nicht aufpasse, nehme ich – während ich mit jemandem rede oder ihm zuhöre – einen Stift in die Hand und beginne zu zeichnen. Nicht nur auf kleine, unscheinbare Zettelchen sondern oft auf DIN-A4-Blätter.
In der Schule wurde ich gefragt: „Wer soll das sein?“ Über diese Frage denke ich seit vielen Jahren nach. Wie um mir selbst immer wieder zu antworten und genau zu gucken, was es ist, was meine Hände zu Papier bringen, muss ich immer weiter zeichnen. Ein Zwang?
Zeichnen als mentale Reise
Wo bin ich, wenn ich zeichne? Kann ich überhaupt noch richtig zuhören? Oder ist das wie beim Fernseh gucken: Man nickt zwar, ist aber inzwischen eigentlich Bruce Willis. Schnelles Zeichnen ist eine befreiende Meditation. Hinter Zeichnen verbirgt sich ein tief greifendes Ordnungssystem. Die Anordnung der Striche ist eine Matrixspiegelung der Organisation des eigenen Ichs.
Von Harold Foster zu Horst Janssen
Die perfekten Tusche-Schraffuren beim Comic Prinz Eisenherz künden von einem Ich, das ein starkes Harmoniebedürfnis hat, die vielen Einzelstriche bei Horst Janssen künden von einem Zerfall des schöpferischen Ichs und dem Bestreben, es irgendwie zusammenzuhalten. Seine kurzen Einzelstriche erlaubten es dem Alkoholiker, der keine geraden langen Striche mehr aus dem Handgelenk ziehen konnte, eine neue Ästhetik zu formen.
Die vielen Facetten des Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci, der sich sehr viel – zum Beispiel in Anatomiestudien – mit den Gegebenheiten des Lebens auseinandergesetzt hat, arbeitete mit leicht gebogenen, organisch wirkenden Schraffuren. Wie nah er dem Leben und der Lebendigkeit war, erschloß sich darin. Dieser kraftvolle Strich, den er fortführte und kultivierte in seinen Darstellungen von expressionistisch anmutenden Pferdeköpfen oder seinen Studien des Wasserflusses und der Wellenbewegungen übersteigerten, das, was er sah, ins Bizarre.
Visualisierte Gewalttätigkeit 1452-1519
Die Pferdekopfstudien zählen zum Intensivsten und Erschreckendsten, was ich in der bildenden Kunst kenne. Da Vinci, was soll das sein, was Du da zeichnest? Ist das Leben so gewalttätig und grausam? Musst Du solche Monster zeichnen? Wo bist Du, wenn Du das tust? Ganz tief in Dir selbst? Versunken? Kommst Du da alleine wieder ‚raus? Vielleicht würde er, als weiser Mann, antworten: Das Grauen liegt im Auge des Betrachters.
6 Responses to “30. August: Nebenbei-Kritzeleien…”
„Ich habe eine gewöhnungsbedürftige Angewohnheit“
Hallo? EINE? Oder meintest Du eine unter vielen?? :-) :-) :-)
Danke für die Frage. Ich finde es sehr wichtig, dass so etwas nachgefragt wird. Aber es ist nur eine.
Kenne das, machte das früher, als ich noch ein Inneres hatte, auch. Glaube, Du hasst recht mit deiner These.
Dass DaVinici seine Pferdeköpfe beim Telefonieren angefertigt haben soll, ist doch aber eher eine sektirerische kunsthistorische Meinung?
Als Du noch ein Inneres hattest? Wo ist das geblieben?
DaVinci war Zeitreisender, da hatte er immer ein bißchen Muße zwischendurch per Handy in seiner Malmanufaktur nachzufragen, ob alles gut läuft in seiner Abwesenheit. Ist aber wohl nicht historisch verbrieft.
Was aber tatsächlich verbrieft ist, ist, nebenbei gesagt, dass er als eine Art Eventmanager bei Hofe zur Belustigung desselben höchst komplizierte Apparaturen aus Holz hat Bauen lassen, mechanische Maschinchen, die sich bewegen konnten. Man hat die minutiösen Aufzeichnungen über alle Teile dieser Apperaturen inzwischen visualisieren können. Also wäre eine Zeitmaschine auch im Bereich des Möglichen.
Ja, wo ist mein Inneres geblieben. Früher sprudelte es nur so aus mir heraus, landetet auf Blättern, Post-It’s, Zeitungsseitenecken. Was auch immer unschuldig neben dem Telefon ruhte.
Heute sprudelt nichts mehr. Wo ist mein Innerstes geblieben? Kann es sein, dass die Schraffuren nicht der Ausdruck des Innersten sind, sondern das Innerste selbst. Dass meines bereits vollständig heraus ist. Kompostiert mit der Zeitungsseitenecke?
Dass heute nichts mehr sprudelt, stimmt ja gar nicht. Du bist äußerst kreativ. Sogar im Gegenteil: Ich kenne Dich gar nicht anders als permanent sprudelnd. Vielleicht mußtest Du das rechte Maß finden.
Auf dem Kompost liegt vielleicht irgendeine alte Identität. Menschen sind wie Schlagen und Spinnen: Sie häuten sich mehrmals im Leben. Das ist gesund.