Bei der Bildenden Kunst geht es um Ausdruck, um Schöpferisches, um Absichtslosigkeit, um ein vielleicht der Gesellschaft abgewandtes Leben, ein Leben nicht alltäglicher Wahrnehmung, um ein besonderes Seherlebnis, das das menschliche Sein relativiert und Erkenntnisse möglich macht. Aber beim Thema „Kunst“ geht es beileibe nicht nur um Idealismus, es geht genauso um Materialismus.
Jeder möchte gerne jemand sein. Aber jeder hätte gerne auch etwas. „Haben oder sein?“ ist hier die Frage, die nicht erst der Sozialpsychologe Erich Fromm gestellt hat. Im Hinblick auf Kunst geben sich immer wieder Millionäre und Milliardäre ein Stelldichein, wenn es darum geht, besonders teure Kunstwerke zu erwerben. Denn wer etwas hat, ist in Kreisen des Geldadels jemand. „Prestigekauf“ nennt man so etwas.
„Der Schrei“ von Edvard Munch als historisches Abbild
Da ist zum Beispiel „Der Schrei“, ein Bild des norwegischen Künstlers Edvard Munch (1863-1944), das in 4 Versionen als Gemälde und außerdem in je einer Version als Lithografie und in einer abweichenden Motivik als Zeichnung existiert. Es wurde in der Pastellversion (1895) im Jahr 2012 für 119.922.500 US-Dollar versteigert. Die eigentliche und berühmteste Version ist bereits 1893 entstanden, in einer Mischtechnik aus Öl, Tempera und Pastell. Dabei stand Munchs Werk in einem kulturellen Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderung. Sein von Angst als Ausdruck geprägtes Bild steht etwa in einem thematisch-inhaltlichen Zusammenhang zur Literatur eines Franz Kafka oder der Psychoanalyse eines Sigmund Freud. Es gab verschiedene parallele Entwicklungen, die sich gegenseitig beeinflusst haben.
- Expressionismus: Das Bild „Der Schrei“ gilt als Wegbereiter des Expressionismus und damit als revolutionäres Werk einer neuen Sichtweise, die Welt zu betrachten. Es ist somit einer der Fixpunkte moderner Kunst.
- Psychoanalyse: Ebenfalls 1893 erschien als Buchveröffnetlichung „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ von Sigmund Freud (1856-1939) und ein paar Jahre später, 1900, das berühmte Werk „Die Traumdeutung“. Freund hat mit seiner Psychoanalyse das Bild, das sich der Mensch vom Menschen macht, nachhaltig geprägt.
- Literarische Moderne: In der Literatur veröffentlichte Franz Kafka (1883-1924) ab 1908 seine Texte. Seine wohl bekannteste Geschichte, „Die Verwandlung“, erschien 1915. Kafka gilt als Wegbereiter der literarischen Moderne.
- Kosmologisches Weltbild: 1905 veröffentliche Albert Einstein seine „Spezielle Relativitätstheorie“, 1915 die „Allgemeine Relativitätstheorie“. Sie veränderten die Weltsicht im kosmologischen Maßstab.
Rund um die Jahrhundertwende vollzogen sich in der Kunst und im Geistesleben beträchtliche Umwälzungen. Ein Bild wie Munchs „Der Schrei“ ist als Zeitzeuge und Mitgestalter dieser Prozesse auch ein einmaliges kulturgeschichtliches Gut, was sich in seiner Relevanz für die Kunst und den Kunstmarkt bzw. auch in dessen Preisgestaltung niederschlägt. Wer einen solchen Munch sein Eigen nennen darf, hat etwas, das nicht nur kein anderer hat, sondern kaum ein anderes Bild reicht an dessen kulturhistorischen Stellenwert heran.
Kunst als Status-Insignie
Eigentlich ist es ja kein Wunder: Denn was könnte man für viel Geld ansonsten erwerben, was nicht jeder hat oder am besten gar keiner? Seltene Autos werden zumindest in kleinen Stückzahlen gefertigt. Ein Haus eines Stararchitekten ist ein Unikat aber in Gänze wegen seiner Sperrigkeit und Unübersichtlichkeit so wenig herzeigbar. Bliebe da noch ein Kunstwerk. Das ist meist ansich ein einmaliges Werk, außerdem verbunden mit einem bekannten Namen und einer Epoche, was seinen Klassikerstatus nicht mehr in Zweifel ziehen wird, auch zukünftig nicht. Die kunst- und kulturgeschichtlich besonders relevanten Werke, die ganz teuren also, sind ansich ein sicheres Investment.
Milliardär und armer Schlucker
Dabei ist der Kontrast zwischen dem ziellosen Künstler als einem Ausdrucksartisten und dem zielorientierten Milliardär denkbar groß. Aber stimmt das auch? In absoluten Zahlen bezüglich des materiellen Besitzes: sicher. Aber agieren Künstler immer naiv und absichtslos? Kann die Kunst nicht auch ein Mittel sein, um potenziell Geld zu verdienen, gar reich zu werden auch wenn das bei den meisten nicht klappt?
Muss ein Künstler arm sein?
Das Klischee des armen Künstlers, der versponnen in seinem Stüblein sitzt und malt, ob auf Leinwand oder inzwischen am Bildschirm sei dahingestellt. Das ist die eine Seite, an die man ein Fragezeichen machen kann. (Übrigens wurde ein von Künstlicher Intelligenz erstelltes Bild wurde 2018 für 432.000 US-Dollar versteigert). Der Künstler in der deutschen Wohlstandsgesellschaft kann zwar immer noch ein Leidender sein, der sich seine Kunst absichtlos abringt. Doch sind viele andere Modelle denkbar.
Der Künstler als Geldmensch
Da ist der Künstler, der einerseits eine Stimme in sich vernimmt, die nach Ausdruck schreit, egal, ob er damit Geld verdient oder nicht. Andererseits will er leben und nutzt seine Ratio. Wer den Werdegang Damian Hirsts oder Jonathan Meeses verfolgt hat, weiß, dass dort beides zum tragen kommt: einerseits der Kunstgedanke andererseits ein teils hemmungsloses Geschäftsgebahren. So richtig trennen kann man das jedoch nicht voneinander.
Der Designer als Künstler
Oder da ist der Künstler modernen Zuschnitts, der auch Gestalter oder Mediendesigner sein kann, der also für Geld Designs entwickelt und vielleicht nebenbei oder eines Tages auch Kunst macht oder Kunstdesign, gar Designkunst? Man kann es nicht sagen. Man kann aber festhalten: In der reifen Wohlstandsgesellschaft gibt es gut bezahlte oder weniger gut bezahlte Mediendesigner, Werber, Fotografen oder Architekten, die erst Auftragsarbeiten annehmen oder später aus dem Kommerz kommend zur Unkommerzialität tendieren, oder anders ausgedrückt: aus dem absichtsvollen Kommerz in die absichtslose Kunstszene driften. Ein Beispiel eines berühmten Designers, der auftragsbozogen arbeitet aber künstlerisch versponnene Entwürfe macht, ist der in New York arbeitende Österreicher Stefan Sagmeister. Bei ihm scheint die Grenze zwischen Kommerz und Kunst zu oszillieren.
Kunst als Auftragskunst
Dabei weiß man allerdings, das Kunstschaffende sich sowieso anderweitig verdingen: Michelangelo schuf als Auftragnehmer der Kirche zeitlose Kunst, Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll hat für den „Spiegel“ geschrieben, Bertolt Brecht hat Werbeanzeigen getextet, Künstler bemalen Häuserwände, beteiligen sich an Wettbewerben oder arbeiten sowieso als Auftragskünstler für Sammler oder Museen.
Liebhaberpreise und Spekulationspreise
Dass Kunst als Wertanlage gesehen und genutzt wird, ist kein Geheimnis. Kunst kann magnetische Wirkung entfalten, auf Sammler oder auch als Magnet, der die Massen anzieht. Wer wollte nicht gerne zumindest einmal im Leben die Mona Lisa sehen, die im Pariser Louvre hängt? Es ist vermutlich das teuerste Bild aller Zeiten für einen geschätzten Preis zwischen 700 und 800 Millionen US-Dollar. Sie wurde bereits 1962 auf einen Wert von 100 Millionen US-Dollar geschätzt. Seit 2004 gibt es 14 Bilder, die die 100-Millionen-US-Dollar-Schwelle an Kaufwert überschritten haben. Darin sind nicht-öffentliche Verkäufe nicht mit eingeschlossen, von denen es ein paar spektakuläre gegeben haben soll. Zu den teuersten offiziell verkauften Gemäden zählen:
- Salvator Mundi von Leonardo da Vinci (ca. 1500), Kaufpreis 2017: 450,30 Millionen US-Dollar
- Les femmes d’Alger (Version „O“) von Pablo Picasso (1955), Kaufpreis 2015: 179,40 Millionen US-Dollar
- Nu couché von Amedeo Modigliani (1917), Kaufpreis 2015: 170,40 Millionen US-Dollar
- Nu couché (sur le côté gauche) von Amadeo Modigliani (1917), Kaufpreis 2018: 157 Millionen US-Dollar
Der aktuell „teuerste“ Werk eines lebenden Künstlers ist eines von Jeff Koons: Für 91,1 Millionen Dollar wurde gerade eben, 2019, seine Skulptur „Rabbit“ aus dem Jahr 1986 versteigert. Angesichts solcher Preise scheint die Absichtslosigkeit in der Kunst, das Eigenbrödlertum und das Abgewandtsein von der materiellen Welt, eine noch wichtigere Aufgabe. Denn je größer der Irrwitz der Hochfinanz, desto wichtiger erscheint Demut vor den Gegebenheiten des Menschseins und der Irrwitz in der Kunst als Ausgleich.
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- Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
- Die Überforderung
- Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
- Kunst als Sprache
- Der Mangel als Ansporn
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- Jede Regel will gebrochen sein
- Die Intrinsik als Wesenszug
9 Responses to “Kunsttagebuch: Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?”
[…] Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!? […]
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[…] und irrwitzigen Gesichtsausdrücken eine adäquate Form – ähnlich wie Edvard Munch in seinem Gemälde „Der Schrei“, existentielle Angst […]
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[…] Denn einmaliger als etwa ein Ölbild oder eine Plastik geht es kaum. Dieser künstlerische Produkt-Individualismus steht im deutlichen Gegensatz zur oft massenhaften Produktionsorientierung im Kapitalismus und ist […]
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