Der Mensch weiß nicht, wer er ist. Genau genommen existiert er aus manch einer Betrachtungsperspektive der Wissenschaft als mit einer Psyche ausgestattetes Wesen nicht so, wie man sich das vorstellen mag. Erst wenn er Informationen über die Welt zu einem Weltbild formt und seine Sinneseindrücke zu einer Ich-Empfindung verknüpft, scheint das Ich zu entstehen.
Wer seinem Leben einen Sinn gibt und seine Gefühle und Überlegungen im eigenen Selbst zu einem konsistenten Ich verknüpft, hat das Gefühl zu existieren. Die moderne Hirnforschung mutmaßt, dass das Ich eine Projektion unseres Gehirns sein könnte. Damit wäre in Zweifel gezogen, dass das Ich eine Dinglichkeit ist, etwas das biochemisch vorhanden wäre. Je mehr man in die Windungen unseres Denk- und Fühlapparates vordringt, dessto mehr verdichtet sich der Verdacht, dass auch unser Bewusstsein virtuell ist.
Was ist Bewusstsein?
Aber was ist das Bewusstsein? Eine Art Vergewisserung der Welt und ihrer Umstände. Ein Prozess der Ich-Verortung also? Bewusstsein ist die Wahrnehmung der Welt und die Fähigkeit über diese Welt zu reflektieren. Sich etwas bewusst zu machen, ist ein fortwährender Prozess der Betrachtung sowie die Fähigkeit, sich in die Welt einzufühlen und über sie nachzudenken. Ein Teil der Welt ist der denkende Mensch selbst. So wie er sich über die Außenwelt Gedanken machen kann, kann er selbstreflektiv über sich selbst nachdenken, über seine Eigenschaften und sein eigenes Sein in der Welt.
Welche Rolle spielt Wahrnehmung?
Wahrzunehmen heißt, Erlebniseindrücke zu empfinden, denn das Bewusstsein des Menschen ist nicht nur bestimmt durch Denken sondern auch durch Fühlen. Das Bewusstsein scheint eine Art Permanentzustand zu sein, der es dem Menschen ermöglicht, die Welt so wahrzunehmen, dass er handeln kann, aber auch, dass er Weltbild und Ich-Bild wahrnehmungskompatibel miteinander verknüpfen kann. In seiner praktischen Anwendung könnte das Bewusstsein ein ständig rückkoppelnder Wahrnehmungs-, Fühl- und Analyse-Prozess sein, der dem Menschen die Frage beantwortet, was die Welt für ihn ist oder sein kann bzw. wer er in dieser Welt ist oder sein könnte. Das Bewusstsein beeinflusst über das Weltverständnis das Ich-Verständnis.
Inhalt und Form: Innenwelt schafft Außenwelt?
Ein Künstler definiert sein Ich im künstlerischen Prozess als Formgebung für seine innere Erlebniswelt. Kunst wäre dann ein Umkremplungsprozess, bei dem Inneres nach außen gekrempelt und dadurch ins Bewusstsein geholt wird. Sich seiner bewusst zu sein, ist ein Vorgang der Selbstreflexion. Ein Künstler, der die Welt abbildet, definiert für sich zugleich seine Lebenswelt, in der er als Ich agiert. Vielleicht ist Bewusstsein nicht eine konkret fassbare Eigenschaft sondern die Bezeichnung für einen flüchtig-virtuellen Prozess, dessen Ziel es ist, Weltbild und Selbstbild in Einklang zu bringen.
Der blinde Fleck und das Ich
Thematisiert man Begriffe wie „Bewusstsein“, ist eines auffällig: Alle Begriffe, die jenen Teil des Menschseins bezeichnen, der über das tierische Sein hinausgeht und innere Eigenschaften meint, wie neben „Bewusstsein“ „Seele“, „Geist“, „Charakter“, „Gemüt“ und „Ich“ sind seltsam schwammige Begriffe. Das verwundert deshalb, weil sie das Zentrum unseres Seins beschreiben. Sie wirken, als lägen sie versteckt hinter einem blinden Fleck. So, als wüssten wir nicht, wer wir selbst sind.
Bilder, Wortbilder, Klangbilder
Bewusstsein im Sinne von „Sich-etwas-bewusst-machen“ bedeutet Fühlen in Denken zu überführen bzw. dem Fühlen eine rationale Ebene hinzuzufügen, die analysiert und in Bezug auf das eigene Leben eingeordnet und bewertet wird. Die Welt wird durch uns wahrgenommen und das, was wir wahrnehmen, wird im Kunstprozess über Umwege zu etwas Bildlichem. Dabei ist Bildlichkeit ein verallgemeinernder Begriff. Maler und Fotografen erzeugen Bilder, Bildhauer sichtbare Objekte, Schriftsteller/innen malen mit Worten, Musiker abstrahieren mathematisch abbildbare Strukturen durch Töne und schaffen so ein Klanggeflecht, das ein Klangbild erzeugt.
Weltwahrnehmung und Ich-Gefühl
Das Gemeinsame an Kunst ist meist ihre Fähigkeit, Ncht-Beschreibbarem und Nicht-Sichtbarem eine wahrnehmbare Gestalt zu verleihen. Kunst wirkt darüber hinaus wie ein Blick in den Spiegel einer erlebten Wirklichkeit, die einen Zusammenhang mit dem eigenen Selbst bildet. Die Gesamtheit aller Kunstprozesse und Kunstwerke ist als Austauschprozess der Wahrnehmungen begreifbar und dabei ein Abgleich von Innenwelten. Das, was Freud genauso wollte wie Einstein, nämlich die Struktur des Nicht-Sichtbaren zu ermitteln – der eine, indem er nach den Gesetzmäßigkeiten der Psyche suchte, der andere, indem er die Natur-Gesetze der physikalischen Welt erforschte – offenbart sich auch in der Kunst. Sie zeigt auch das Nicht-Wahrnehmbare in einer Symbiose aus Welt und Selbst.
Weitere Kunsttagebücher:
- Was ist Kunst? Und warum nicht?
- Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
- Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
- Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
- Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
- Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
- Wann Form ein Inhalt sein kann
- Was könnte das sein?
- Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
- Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
- Über das „Zuviel“
- Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
- Der assoziationsoffene Raum
- Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
- Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
- Der Kunsst
- Was ist Kunst?
- Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
- Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
- Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
- Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
- Zeichnen und die Macht des Zufalls
- Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
- Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
- Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
- Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
- Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
- Warum Kunst ein Virus ist
- Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
- Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
- Das Ungefähre als das nicht Greifbare
- Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
- Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
- Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
- Kunst als Selbstdialog
- Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
- Die Überforderung
- Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
- Kunst als Sprache
- Der Mangel als Ansporn
- Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
- Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
- Kunst als fortgesetzter Traum
- Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
- Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
- Jenseits der Worte
- Wahrheit und Verdrängung
- Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
- Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
- Die Absolutheit der Ich-Perspektive
- Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
- Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
- Jede Regel will gebrochen sein
- Die Intrinsik als Wesenszug
3 Responses to “Kunsttagebuch: Selbstbild und Seins-Inszenierung”
[…] Selbstbild und Seins-Inszenierung […]
[…] Selbstbild und Seins-Inszenierung […]
[…] Selbstbild und Seins-Inszenierung […]