Spirit-Comic-Bibliothek

Manchmal bringt es einen Überblick, dass man eine Bilanz zieht und für sich festlegt, was einem wichtig ist. Wenn in einer Kultur eine Kanonisierung stattfindet, ist das ein ähnlicher Vorgang. Ursprünglich kam der Begriff der Kanonisierung aus der Religion bzw. dem Christentum. Als Kultur-Begriff hat er jedoch eine andere Bedeutung.

Man nennt die Gesamtheit der einzelnen Bücher, aus denen die Bibel besteht, den „Bibelkanon“. Kanonisierung bedeutet aber auch Heiligsprechung. Ein Buch, das in die Bibel aufgenommen wurde, war damit auch relevant für die Religion und das Buch wurde damit ebenfalls als heilig erachtet. Auch die Kanonisierung eines Kulturgutes hat eine sehr grundlegende Bedeutung.

Kanonisierung in der Literatur

Kanonisierung in unseren Tagen kennt man eher auf Literatur angewendet, wenn es also darum geht herauszufinden, welche Werke maßgeblich für die Literatur eines Kulturkreises oder der Weltliteratur sind. Dann werden vielbändige Werke verlegt, die in ihrer Gesamtheit zum Beispiel die wesentlichen Bücher der deutschen Literatur beinhalten. Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat so etwas für die deutsche Literatur definiert, woraufhin Joachim Kaiser, ein anderer bekannter Kritiker, ihm widersprochen und andere Anforderungen an einen Kanon gestellt hatte.

Hochkultur und Popkultur

Auch die diversen Publikationsreihen beispielsweise der Süddeutschen Zeitung – Romane, Filme und Comics – zielen in die Richtung, einen Kanon für die jeweilige Kunstform festzulegen. Dabei geht es im Falle der Literatur um Hochkultur; denn kein Mensch würde darauf kommen, einen Kanon für Trivialliteratur zu definieren, weil es bei einem Kanon um die höchste Qualität des jeweiligen Mediums geht. Das Gegenteil der Hochkultur ist die populäre Kultur, Kurz: Pop-Kultur. Wenn es um Pop-Kultur geht, sind wir auch schon ganz schnell bei den Comics, den Bildergeschichten und den Graphic Novels. Was bedeutet Kanonisierung aber für ein pop-kulturelles Phänomen wie die Comics?

Comics: Kanon des Anspruchs

Manch Comicforschender oder Comic-Experte ist der Meinung, dass eine Kanonisierung von Comics nach ähnlichen Kriterien vollzogen werden sollte wie in der Literatur. Denkbar wäre also eine Sammlung der wichtigsten europäischen Comics oder der amerikanischen Comics innerhalb einer Buchedition. Ob das dem Medium Comic gerecht werden würde, das sich aus einer Anspruchslosigkeit entwickelt hat, sehr oft auch heute noch niedere Instinkte bedient und eher ausnahmsweise Großartiges hervorgebracht hat. Jene grafisch-erzählerische Form also, die anfänglich und nachhaltig nicht nur so infantil daher kam wie der Film, sondern seine Trivialität über dies weiter steigerte und zum Stilmittel erhob. Das soll nicht heißen, dass es nicht anspruchsvolle Comics gäbe, auch nicht, dass Comics keine Kunstform sein könnten, sondern nur, dass es auf den ersten Blick nicht nahe liegt, eine solche Form in einen Kanon des Anspruchs zu zwängen.

Comics und ihre Publikationsformen

Die Comics sind aber sowieso von sich heraus auf ganz natürliche Weise einen eigenen anderen Weg gegangen. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Comics ähnlich wie Literatur in unterschiedlich umfänglichen Darreichungsformen existieren. Die Zeitungscomics als Tages-Streifen oder die Wochenendcomics in Form ganzer Seiten als Analogie zu Kurzgeschichten oder Romanen, die in Episoden publiziert wurden, wie bei Balzac beispielsweise. Kurz: die Comichefte kann man als Analogie zu den Novellen oder die Graphic Novels als Analogie zu den Romanen verstehen.

Eigenarten des seriellen Publizierens

Es fällt schnell auf, dass die Analogien nicht so ganz funktionieren, weil ein Peanuts-Comic-Strip zwar in sich abgeschlossen ist aber nur ein Teil eines großen Fortsetzungs-Geschichten-Personen-Kosmos repräsentiert wie auch die Comic-Hefte der amerikanischen Superhelden-Serien – wie beispielsweise Batman oder Superman. Zwar gibt es auch in der Literatur Zyklen wie bei Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) oder bei John Updike (Rabitt-Zyklus, Bech-Zyklus oder Die Hexen von Eastwick und Die Witwen von Eastwick) aber in der Regel sind sowohl Kurzgeschichten als auch Romane in sich abgeschlossener. Es gibt dem gegenüber nicht eine Superman-Comic-Geschichte oder zumindest eine geringe Anzahl sondern inzwischen hunderte oder tausende. Das liegt daran, dass Comics wie Fernsehserien oder Romanheftchen seriell angelegt sind und zum anderen traditionell mit simplen Identifikationsmustern arbeiten, deren Grundlage ein festes Personeninventar ist, das sich wiederholen muss, um die permanente Identifikation zu ermöglichen.

Vergleich: Comics und Literatur

Es kann also sein, dass der Großteil der Supermangeschichten in der Umsetzung nicht kanonisierfähig wäre, die Grundfigur selbst aber schon, zum Beispiel, weil sie ein popkulturelles Allgemeingut geworden ist. An diesem Beispiel sieht man, dass Popkultur unter Umständen nach einem anderen Regelwerk funktioniert als alt hergebrachte Hochkultur. Auch rein quantitativ ergeben sich darüber hinaus weitere Unterschiede, weil Comics einen Massenmarkt bedienen und der Ausstoß in Comic-Nationen wie Japan oder Amerika beträchtlich ist. Das Werk von Hermann Hesse oder Thomas Mann ist relativ überschaubar, das Werk eines Comicautoren kann ausufern. Ein weiteres Unterscheidungskriterium zwischen den Medien Comic und Literatur ist, dass im Medium Comic Zeichnung und Text getrennt zu betrachten sind. Es könnte also beispielsweise sein, dass die Zeichnungen eines Comics sich für eine Kanonisierung eigenen, während der Text das Niveau nicht erreicht oder umgekehrt. Nur sehr selten ergänzen sich beide kongenial.

Vielschichtige Beurteilungsebenen

Was letztlich aber bleibt und die Beurteilung zudem so schwierig macht, sind die Inhalte. Genauer gesagt, muss die getrennte Analyse des Mediums Comic nicht nur zwischen Zeichnung und Story erfolgen, sondern zusätzlich über zwei weitere Ebenen. Im Falle der Zeichnung ist es so, dass diese zwar technisch hervorragend oder auch kreativ in ihrer die Story transportierenden Formensprache ist, sie aber über die Art und Weise, was sie wie darstellt, auch einen zeichnerischen Inhalt vermittelt. Dieser Umstand hat zum Beispiel bei der Comicheft-Serie Spawn immer wieder Kontroversen mit beeinflusst und zu Indizierungen geführt, wenn es beispielsweise um das Thema Selbstjustiz geht. Dabei wurde gezeigt, dass ein Pädophiler mit blutrünstig getötet wurde. Diese zweite Ebene, bei der es darum gehen kann, wie explizit etwas zeichnerisch dargestellt wird, andererseits auch auf den Text. Auch eine Geschichte des mehr als umstrittenen amerikanischen Zeichners/Autors Frank Miller kann handwerklich brillant erzählt sein und dennoch fragwürdige Inhalte transportieren. Beides mal geht es um Texte, deren kreativ-technische Verbalisierung gut sein mag aber sich innerhalb eines Konzeptes fragwürdiger Inhalte bewegt.

Von Cervantes zu Yellow Kid

Man mag einwenden, dass dieses Prinzip, der beiden Ebenen jeweils bei Text und Zeichnung, also je Inhalt und Form der Zeichnung und Inhalt und Form des Textes, auch auf Literatur übertragbar ist. Wenn man populäre und triviale Literatur als Vergleich heranzieht, ist dies richtig. Im Vergleich zur anspruchsvollen Literatur ergibt sich aber ein grundlegender Unterschied. Die Genese des Romans als Medium mit komplexen Inhalten hat eine lange Geschichte. Die Vorläufer des Romans, wie wir ihn heute kennen, gehen bis zum 11. Jahrhundert zurück. Der Roman modernen Zuschnitts reicht zurück bis 1600 (Cervantes‘ Don Quixote erschien 1605). Die Anfänge der Bildgeschichten reichen zwar noch weiter zurück weit hinein in die vorchristliche Zeit, doch nahmen jene Geschichten, die als direkte Vorfahren unserer heutigen Comics gelten können, erst im 19. Jahrhundert ihren Anfang. Als Beginn der Moderne in den Comics gilt dann Yellow Kid von Richard Felton Outcault aus dem Jahr 1896.

Roman und Graphic Novel

Während also der Roman sich in einer längeren Zeit über die Jahrhunderte entwickelt und partiell kultiviert hat, gab es Bildgeschichten zwar bereits viel länger, aber die Bilderzählung, die zur Blaupause für moderne Comics wurde, war erst sehr viel später, nämlich mit Yellow Kid etabliert. Sehr schnell danach kamen immer weitere Zeitungscomics heraus und später Comichefte. Die Comicindustrie wuchs immer schneller und erweiterte sich explosionsartig. Der Roman ging einen gespaltenen Weg. Er diente zu Anfang ebenfalls der Unterhaltung oder etwa religiösen Motivationen, wurde aber schließlich zu einer komplexen literarischen Kunstform. Die Stunde der Graphic Novels als Analogie dazu schlug sozusagen erst vor kurzem – anspruchsvollere Formen von Comics entwickelten sich in den 1970er-Jahren: in Amerika begrifflich befördert durch Will Eisner, in Europa durch Hugo Pratt und beeinflusst durch Comicmagazine wie Metal Hurlant (=Schwermetall/Heavy Metal).

Roman vs. „Schund“-Comic

Wenn man Comics als Medium insgesamt dem literarisch wertvollen Roman gegenüber stellt, kann man sagen, dass der Roman in seinen komplexesten Ausprägungen eher ein Kulturgut geworden ist als ein Konsumgut oder ein Handelsgut. (Damit sind aber nicht Unterhaltungsromane gemeint). Auch die neuere Geschichte der Comics ist trotz künstlerisch wertvoller Comics und trotz erwachsen gewordener Comicformen durchdrungen von Zielgruppencomics, von Kommerzialität und Kalkül, die das Medium lange Zeit davor bewahrt hat, richtige Kunst zu sein – was den Vorteil der Unverstelltheit, der Unmittelbarkeit, der Ehrlichkeit und Einfachheit hat. ;-) Denn viele Versuche von amerikanischen Superhelden-Comic-Verlagen wie DC oder Marvel, vermeintlich erwachsene Comics herzustellen, wirkten immer wieder verkrampft und unglaubwürdig, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie Allan Moores und Dave Gibbons‘ Watchman oder Frank Millers The Dark Knight Returns. Davon abgesehen liegt die Wiege des neuzeitlichen Erwachsenencomics aber in Europa. Wollte man also ein junges, kommerzialisiertes Medium wie die Comics mit anspruchsvollen Großromanen vergleichen, wird man merken, dass dies in der Regel nicht auf der Ebene der Gleichwertigkeit stattfindet.

Comics in Buchform

Eine Tendenz, die bei all dem aber zu verzeichnen ist, ist, dass die Comics in dem Maße, in dem ihre Leserschaft in die Jahre gekommen und damit erwachsen geworden ist, in andere Darreichungs- und Publikationsformen überführt wurden. Es gibt zum einen Komplett-Publikationen von Zeitungscomics wie die Peanuts-Gesamtausgabe, Alben-Comicserien wie Leutnant Blueberry in den Blueberry-Chroniken oder im Falle von Moebius/Jean Giraud gar eine amerikanische Edition seines Gesamtwerkes. Klassische europäische Albenserien wie Comanche oder Valerian und Veronique gibt es als Gesamtedition in Hardcoverausgaben, klassische amerikanische Sonntags-Tageszeitungsstrips wie Tarzan, Flash Gordon oder Prinz Eisenherz ebenso. Auch der Spirit, der ursprünglich eine Beilage der Wochenendeausgabe von Tageszeitungen war, ist inzwischen in Amerika und Deutschland in Buchform erschienen.

Kuratierte Comic-Editionen

Diese Bucheditionen ergänzen die Comics um redaktionelle Beiträge, im Fall der aktuellen Prinz-Eisenherz- oder Tarzan-Ausgaben im Boccola-Verlag wurden die Originaldruckvorlagen aufwendig digital restauriert, und ganz allgemein werden die Serien auf die eine andere Weise sozusagen kuratiert und damit kulturell eingebettet, bewertet und historisch verortet. Diese Form, klassische Comics neu verfügbar zu machen und dabei auch en passant kulturell einzuordnen und in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen, ist eine Form der Kanonisierung, die dem Medium gemäß ist. Eine Kanonisierung von Comics, das oft ein Trivialmedium war und sich nur schwer davon lösen kann, erfolgt über eine erwachsene Publikationsfolge des Gesamtwerkes. Dies geschieht auf unterschiediche Weise. Beim genannten Beispiel Comanche, wurden alle Alben mit neuer Ausstattung jeweils als Hardcover-Einzelausgaben herausgebracht, bei Valerian und Veronique wurden mehrere Geschichten in je einem Hardcoverband zusammengefasst, insgesamt sind es sieben Bände geworden. Der Incal-Zyklus von Moebius und Alejandro Jodorowsky wurde in einem dicken Band zusammengefasst.

Comics als Kunstform

Comics als mediale Form werden inzwischen als 9. Kunst bezeichnet, die das Visuelle der Bildenden Kunst mit der Erzählkraft/Narrativität der Literatur zusammen bringt. Der Begriff geht auf den französischen Journalisten und Publizisten Francis Lacassin zurück, der sich 1962 auf die gängige Einteilung der Bildenden Kunst innerhalb der Schönen Künste bezog. Die Bildende Kunst hatte ursprünglich mit Architektur, Bildhauerei, Malerei, Zeichnung und Grafik eine fünfstufige Einteilung, der später Fotografie, Fernsehen und Film hinzugefügt wurden. Auf Platz neun erschienen dann die Comics. (Zur klassischen Kunsteinteilung gehören neben der Bildenden Kunst außerdem Musik, Literatur, Theater und Tanz). So wie sich die alt hergebrachte Kunst in manchen Bereichen seit Andy Warhol profanisiert und popularisiert hat, streben ehemals trivial inspirierte oder dominierte relativ neue Formen wie das Fernsehen oder die Comics in den Kunstbereich vor. Manche Comic-Zeichner wie Bilal oder Moebius sind zu „echten“ Künstlern geworden, andere wie Neal Adams oder Barry Windsor-Smith verkaufen ihre Kunstdrucke oder Originalzeichnungen für viel Geld – fast wie Druckgrafiken auf dem etablierten Kunstbereich. Bei Adams sieht man als wiederkehrendes Motiv vor allem Batman, bei Windsor-Smith Conan.

Das triviale Kulturgut

Bei einem ursprünglich fast ausschließlich trivialem Medium kann man die Wiederbelebung, die Neuentdeckung und kommentierte aufwändige Publikation in Buchform als Kanonisierung betrachten, auch wenn sie nicht systematisch und vollständig als Sammlung aller wesentlichen Werke erfolgt. Denn eine wohlfeile Hardcover-Publizierung adelt Strips bereits, die ursprünglich auf Zeitungspapier gedruckt worden waren oder die Comic-Hefte. Darüber, ob Micky Maus, Superman, Batman, Wolverine, Fix und Foxi und viele viele andere Comicserien es wert sind, tatsächlich in einen seriösen Kanon aufgenommen zu werden, sollte man nicht streiten. All diese und andere Serien sind in das kollektive Unterbewusstsein verschiedener Generationen von Lesern eingedrungen und ziehen daraus ihre Existenzberechtigung. Ein triviales Medium, das die Comics lange Zeit waren und zu großen Teilen immer noch sind, sollte man jedoch nicht überinterpretieren oder überintellektualisieren. Fazit: Nicht mit Kanonisierungen auf Spatzen schießen!