Kunst kommt von Können – oder von können? Kunst kann auch von Nichtkönnen kommen. Denn der Ausgleich eines Mangels, einer Einschränkung der eigenen Fähigkeiten, führt unter Umständen erst zum unvergleichlichen Stil.
Was ist die langweiligste künstlerische Darstellungsform? Photorealismus. Denn die zwar artistische Meisterschaft bei der perfekten Abbildung ist ansich denkbar spannungslos und oft keinen zweiten Blick wert. Könner wie Gottfried Helnwein haben die handwerklich-technische Langeweile durch provokative Motive bekämpft.
Nicht-Können als Wesen des eigenen Stils
Aber ansonsten gilt: Das Besondere in der Darstellung entsteht dadurch, dass man nicht alles (technisch) perfekt bzw. gleich gut abbilden kann. Oft wird gesagt, dass bekannte Künstler, die den Menschen und seinen Körper – gemessen an einem realistischen Ideal – deformiert haben, auch „richtig“ hätten malen können. Wie zum Beispiel Pablo Picasso oder Francis Bacon.
Unfähigkeit als künstlerischer Weg
Abgesehen davon, dass das künstlerische Ergebnis Resultat von Wahrnehumg und ästhetischer Vision ist, ist die Form das Ergebnis auch dessen, was man nicht darstellen kann (oder nicht will, weil man nicht kann). Kunst ist nicht nur ein aktives Schaffen, das Ausspielen einer Fähigkeit, sondern auch das Nicht-Vorhandensein einer Befähigung.
Wollen und Können in der Kunst
Einem Künstler zum Beispiel, der immer nur Gesichter formt, wird unterstellt, er würde Gesichter formen wollen. Vielleicht aber fehlt ihm die anatomische Kenntnis (und deshalb das Interesse), den Körper eines Menschen zu malen. So also bliebe der Kopf als Schaffensgebiet der Kreation, weil er diesen am besten darstellen kann.
Technische Fertigkeiten in der Kunst
Die meisten Maler haben wiederkehrende Motiviken oder visuelle Thematiken. Ein Künstler kann beispielsweise besonders gut Menschen oder aber Landschaften darstellen oder im Detail z.B. besser Arme als Beine oder besser Körper als Köpfe zeichnen. Auch technisch gibt es natürlich Spezialisierungen, ein Künstler ist z.B. ein viel besserer Zeichner als Maler oder ist besser im Aquarellieren als mit Tempera oder Öl. Wer gar vieles, was klassische illustrative oder malerische Techniken ausmacht, nicht beherrscht, kann entweder nichts, entwickelt Manierismen oder aber einen ganz eigenen Stil. Naive Malerei mag ein Beispiel dafür sein.
Unfähigkeit als künstlerischer Vorteil
Die eigene Unfähigkeit, wenn auch nur in Teilbereichen des Schaffens, muss nicht unbedingt ein Makel oder Nachteil sein, sondern kann der Ausgangspunkt eines eigenen Stils sein, der visuelle Spannung schafft. Technischer Perfektion wird unterstellt, sie sei die Grundlage der größten künstlerischen Freiheit, weil sie den Künstler in die Lage versetzt, alles, was er sich vorstellen mag, auch umsetzen zu können. Aber manchmal ist alles nichts und die Bewältigung eines Mangels, die Basis für künstlerische Kreativität.
Der Künstler als „Creative-Director“
All dies gilt eher für althergebrachte Kunst und nicht etwa für moderne, in der handwerklich-technische Aspekte eine untergeordnete Rolle spielen und kinetische Künstler oder Objektkünstler ihre Werke teils von technisch versierten Handwerkern oder Kunsthandwerkern umsetzen lassen, wie z.B. Jeff Koons bei seinen Skulpturen. Der Künstler fungiert hier eher als Konzeptioner oder Art-Director, der sich handwerkliches ausführendes Können einkauft. Auch hier umgeht er damit seine eigene Unfähigkeit. Aber das ist eine andere Geschichte.
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