Ich sitze im Auto und blicke auf das Mini-Display meines Smart-Phones. Dort sehe ich ein YouTube-Video aus Japan, ein Amateur-Video, das ich schon zigmal auf dem großen Bildschirm meines Fernsehers gesehen habe. Und dann sind da noch der kleine Bildschirm meines Netbooks oder das mittelgroße Display meines PCs, auf denen ich in den letzten Tagen die Geschehnisse verfolgen konnte. Ein Strom aus Bildern, der uns mitreisst und den realen Strom des Tsunami schnell überlagert hat.
Bildschirme über Bildschirme, Bildschirme mit Inhalten. Kühle Inhalte, entfernte Inhalte. Bewegte Bilder, aber bewegen sie auch? Übermitteln sie das Leid der Japaner? Wohl kaum, es bleibt abstrakt. Leichen in Plastiksäcken, die Flut als Naturereignis aus der Luft. Kein Verletzter zu sehen. Am ehesten wird klar, was den Menschen passiert ist, wenn mal vereinzelt einer der insich gekehrten Bewohner Japans berichtet, dass er seine ganze Familie verloren hat. Dennoch: Die Bilder übermitteln nicht das wahre Leid. Eher wankeln sie zwischen Beschwörung und Orakel. Hoffentlich passiert nicht das Schlimmste, doch man weiß: Alles spricht dafür, dass es passieren wird. Ein seltsame Schwebezustand, über Tage gestreckt.
Der Untergang als Video-Clip
Im Fernsehen reduziert sich die Berichterstattung in wesentlichen Teilen auf immer neue Video-Clips, die meist Amateure spontan aufgenommen haben – oder mal ein Kamerateam, das zufällig eine Reportage über das Land drehen wollte als der Tsunami plötzlich kam. Dann die Luftbilder, die Bilder oder jene Bilder, die ein für jeden kostenlos downloadbares Zusatzmodul für Google-Earth erzeugt, indem es Vorher/Nacher-Bilder erzeugt. Die Video-Clips im Fernsehen sind oft mit depressiver Musik hinterlegt. Kaum zu glauben. Jetzt wird vorstellbar, wie das Ende der gesamten Welt ablaufen könnte: Milliarden sitzen vor Bildschirmen und sehen Stunden bevor die Katastrophe eintreten wird, deren Fortgang. Sie beobachten seelenruhig ihren kommenden eigenen Untergang. In bequemen Fernsehsesseln, eine Tüte Chips in der Hand, ein leckeres Getränk in Reichweite. So könnte es sein, wenn man sehenden Auges ins Unglück rennt. Zur Stunde jedoch ist der Schrecken für die Japaner ganz unvorstellbar real.
Die berechenbare Katastrophe
Die Katastrophe läßt sich ja auch real quantifizieren: Es sei bisher ein Schaden von 180 Milliarden Euro an Verwüstungen entstanden. Die Rückversicherungen bluten an den Börsen. Bei mancher Berichterstattung drängt sich der Eindruck auf, sie würden mehr bluten als die Bevölkerung. Und perverserweise bestraft wie immer in so einem Katastrophenfall die Börse das Land: Sie sagt: Japan, Du bist im Augenblick nicht viel wert. Dabei spielen die vielen Toten kaum eine Rolle in der Rechnung, wichtiger ist, dass Unternehmen und Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Beschwichtigung als oberste Maxime
Ebenso seltsam und unmenschlich wie die automatisierten und ihren eigenen Gesetzen folgenden Reaktionen der Finanzwelt, sind die Reaktionen der Politik. In Japan ist oberstes Gebot die Beschwichtigung. Wer die Wahrheit sagt, verliert sein Gesicht, beging eine Art psychisches Harakiri. Da wird atomare Strahlung verharmlost, da wird positiv davon berichtet, dass die Wolke aufs Meer hinauszieht, womit das Problem ja aber nicht gelöst ist, weil die Radioaktivität im Meer in die Nahrungskette wandert und letztlich im Magen des Menschen landet. Auch die offenbar unvermeidliche Kernschmelze wird verbal so weit hinausgezögert bis es nicht mehr geht. Bis man sachlich feststellen wird, ja, jetzt ist er da, der Super-GAU, obwohl man es schon seit Tagen weiß, dass er kommen wird.
Die aktuelle Lage in Japan
In Fukushima nimmt das Drama seinen Lauf: Eines der Becken in Reaktor 4, der schon vor der Katastrophe abgeschaltet war, in denen verbrauchte aber immer noch radioaktiv strahlende Brennstäbe gelagert werden, hat heute Temperatur bekommen, es ist fiebrig, und wie man weiß, ist zu hohes Fieber gefährlich. Reaktor 2 ist explodiert, der Reaktor-Schutzbehälter soll metergroße Löcher haben, Radioaktivität kann nun ungehindert in die Außerwelt gelanden. Es ist schon die dritte Detonation in Fukushima seit Beginn der Katastrophe. Alle Mitarbeiter, die nicht unmittelbar mit dem Kühlen der Brennstänbe beschäftigt sind, wurden abgezogen. Die Kernschmelze, sagen Fachleute, sei nicht mehr aufzuhalten. Der befürchtete Fortgang der Ereignisse würde Tschernobyl in den Schatten stellen: Wegen der Intensität der Strahlung, an der auch das ultragefährliche Plutonium beteiligt ist und weil sich im Gegensatz zu Tschernobyl die Katastrophe in der Nähe eines der größten Ballungsräume der Erde vollzieht. 35 Millionen Tokioter sind nicht so einfach evakuierbar. Die Strahlenbelastung in Tokio hat sich inzwischen erhöht aber nicht dramatisch, weil der Wind, der partiell Radioaktivität von Fukushima nach Tokio getragen hatte, sich mal gedreht hat und die Radioaktivität aufs Meer hinaus bläst.
Die größte Gefahr, die von der Radioaktivität droht, ist das Vergessen
Was hier so recht niemand versteht, ist, warum Japan so unbedacht eine große Zahl an Kernkraftwerken in einem Erdbebengebiet errichtet hat. Natürlich war die Stärke des Bebens, deren Wert heute von 8,8 bzw. 8,9 auf 9,0 auf der nach oben offenen Richterskala korrigiert wurde, ein besonders starkes Beben, das nicht alle Tage auftritt. Andererseits ist Japan im 2. Weltkrieg Schauplatz zweier traumatischer Atombomben-Abwürfe gewesen. Hiroshima und Nagasaki sind auch heute noch dafür verantwortlich, dass jedes Jahr Tausende in Japan an Krebs sterben. Darüber redet man aber nicht gerne auf der Insel. Es wird verdrängt. Der technologische Wahnsinn, scheint in diesem Verdrängungs-Mechanismus, der die eigene Schwäche und Verletzlichkeit ignorieren will, begründet. Eigentlich wurde überall auf der Welt immer dann, wenn es zu einer atomaren Katastrophe kam, der Mantel des Schweigens über die Ereignisse gedeckt. Ob die überirdischen Atombomben-Versuche in Amerika, die riesige Landstriche dauerhaft verseucht haben, ein jahrzehntelang geheimer atomarer Unfall in Russland oder viele kleine Unfälle in deutschen und japanischen Atomkraftwerken: Die Verantwortlichen möchten immer, dass das gar nicht stattgefunden hat. Sie erstellen dann Gutachten über lokal gestiegene Leukämieerkrankungen, die beweisen sollen, dass sich nichts beweisen läßt.
Wahlkampfbedingte Reaktionen der Bundesregierung
In Deutschland hat die Katastrophe am anderen Ende der Welt zunächst augenscheinlich einiges bewirkt. Heute sagte die Bundesregierung vor Medienvertretern, dass jene Atomkraftwerke, die vor Ende 1980 gebaut worden waren, vom Netz sollen. Dies sind Biblis A und B, Isar I, Neckarwestheim 1, Brunsbüttel, Unterweser und Philippsburg 1. Krümmel, das 1983 ans Netz gegangen war und seitdem von einer Panne zur nächsten torkelte, geht ebenfalls vom Netz. Als erstes soll pünktlich zum Wahlkampf Neckarwestheim 1 vom Netz gehen. Damit hat sich die Bundesregierung eine Forderung der Opposition zumindest für drei Monate, in denen die Nutzug der Kernkraft überdacht werden soll, zu eigen gemacht. Es steht zu vermuten, dass diese drei Monate aber nur eine Art Wahl-Überbrückung sind. Denn dass die Bundesregierung mit ihrer Laufzeitverlängerung auch für Kernkraftwerke, die ausgewiesenermaßen technisch veraltet und hochgradig störanfällig sind, eine Fehlentscheidung getroffen hat, tritt durch die Ereignisse in Japan zu offensichtlich zu Tage, als dass man wahlkampfneutral zur Tagesordnung übergehen könnte. Die Bundesregierung hatte nämlich behauptet, die Technik sei beherrschbar und sicher. Nun hat sich gezeigt, dass das nicht stimmt. Wie man hören konnte, haben sich die Ministerpräsidenten der CDU-geführten Bundesländer seit gestern im Abschalten ihrer Kernkraftwerke geradezu überbieten wollen, vor allem jene, wie der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, die eine bevorstehende Wahl zu bewältigen haben.
Das Hü und Hott zwischen Laufzeitverlängerung und angeblichem Ausstieg
Bundeskanzlerin Angela Merkel ging noch einen Schritt weiter: Sie berichtete in der Pressekonferenz von einem Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy, in dem sie eine europäische Initiative angeregt habe, die Kernkraft zu überdenken. Wie weit das gehen mag? Über die nächsten Wahlen hinaus? Man muß die immensen Verstrickungen der Kernkraft bedenken. Sie ist sowohl privat- als auch volkswirtschaft sowie militärisch äußerst stark eingebunden und vernetzt. Gerade hier hat, wie man an dem Meinungsbildungsprozess der jüngst beschlossenen Laufzeitverlängerungen sehen kann, nicht nur die Politik mitzureden. Sie ist durchdrungen von Meinungsmachern und Lobbyisten, oft sind es die Politiker in Personalunion selbst, wenn sie zum Beispiel als Aufsichtsräte bei den Energieriesen mitentscheiden. Ein Ausstieg würde ein radikales Umdenken voraussetzen, wäre ein kaum vorstellbarer Bruch etablierter Machtstrukturen. Ist das mit dieser Regierung, die nicht konzeptionell und oft noch nicht einmal programmatisch denkt, sondern nur von Wahl zu Wahl, möglich? Ein ehernes Gesetz der Politik lautet: Der Wähler vergisst vieles sehr schnell. Deshalb geht es in der Politik oft darum, Zeit zu gewinnen. Unter Helmut Kohl hatte sich für diesen typischen politischen Vorgang der Begriff des „Aussitzens“ etabliert und wird seitdem von seiner politischen Schülerin Angela Merkel weiter angewandt und verfeinert. Dass eine Lösung der Energie-Probleme in Deutschland in der zentralistischen Organisation dieser Energie-Bereitstellung in Deutschland liegt und manche Stadtwerke lokal zum Beispiel über den Einsatz kleiner Blockkraftwerke für Siedlungen bereits moderner agieren als es die monolithische Kernkraft-Technologie denkbar erscheinen läßt, gerät dabei in den Hintergrund – auch wenn darin ein Lösungsansatz für die Zukunft liegt. Auf absehbare Zeit jedoch wird es in der großen Politik der CDU/CSU und FDP so erscheinen, als gäbe es keine Alternative zur Kern-Energie. Einen Anstoß hat sie nur erhalten, weil sie aufgrund der Katastrophe in Japan ihr Weltbild revidieren muß. Ob da hineinpasst, dass die Kernkraft grundsätzlich nicht beherrschbar ist, egal welche Vorkehrungen man trifft, bleibt abzuwarten. Es spricht aber in keinem Falle für die Koalition, dass sie offensichtlich geistig dermaßen träge ist, dass sie nur umdenken kann, wenn ein Super-GAU in Aussicht steht. Vorauschauende konservative Politik müßte Gefahren im Vorfeld erkennen. Aber gibt es diese Politik noch?
One Response to “Japan-Atom-Unglücks-Tsunami: Die Katastrophe als Endlos-Videostream-Wiederholung”
[…] Diese Dokumentation über die Verfechtungen innerhalb der Atomindustrie läßt einem die Haare zu Berge stehen. Wo bleiben Objektivität und Neutralität bei der Beurteilung einer gefährlichen […]