Das Büro des Bergbau-Schäden-Regulierungsamtes war im England der frühen 90er Jahre gegründet worden, um in einem Landkreis, in dem es viel Industrie gegeben hatte, die Forderungen jener Hausbesitzer zu bearbeiten, an deren Häusern Bergschäden durch den unterirdischen Kohleabbau entstanden waren. Es waren dazu acht Planstellen geschaffen worden, mit einem Geschäftsführer und sieben Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern.
Nach einem stürmischen Jahrzehnt der Regulierung, nach all den Anträgen wegen Bergschäden, nach all den abgesackten Häusern und den Rissen in Fassaden und Gemäuern beruhigte sich die Lage schneller als prognostiziert. Der Bergbau war nach und nach eingestellt worden. Es gab daher kaum noch aktive Bergwerke und entsprechend wenig Hausbesitzer, die nach einem Schadensersatz verlangten oder vor Gericht gehen wollten. Hinzu kam eine neue sichere Technik bei der unterirdischen Verfüllung inaktiver Stollen, wodurch nachgebende Erdschichten weitesgehend ausgeschlossen waren. Die Zeit der Gutachten, Schätzungen und Zahlungen schien unweigerlich vorüber zu sein.
Zunächst waren alle in der hiesigen Zweigstelle des Bergbauschäden-Regulierungsamtes motiviert genug, sich Arbeit aktiv zu suchen – wenn es nicht anders ging, auch artfremde Arbeit. McDermitt ging so weit, sich einen Neben-Job zu suchen und kassierte damit zeitweise sogar zwei Löhne. Sein Chef untersagte ihm dies nur deshalb, weil der durch die Untersagung selbst einen Verwaltungsgang in Kraft setzen konnte, wodurch er etwas zu tun bekam und dankbar eine Akte anlegen konnte. Ansonsten verlor niemand ein Wort darüber, alle waren gelähmt von der Aussicht, irgendwann arbeitslos zu sein und sich nicht mehr ernähren zu können.
Fulton, der jüngste Mitarbeiter im Büro, wollte einen Roman mit dem Titel „Im Armenhaus“ schreiben. Weil er meinte, seine visionären Träume in all den Nächten der letzten Wochen, in denen er sich – im Bett liegend, zitternd, teils wie von Schüttellähmung befallen – im Armenhaus gesehen hatte, müssten schriftstellerisch verarbeitet werden.
Mr. Phillips, der Geschäftsführer, war nur noch dabei anzutreffen, wie er in seinem großen Büro trotz der bequemen Stühle am Fenster stand und hinausblickte. Als er bemerkte, dass man darüber redete, ließ er seinen Schreibtisch umstellen, sodass er im Sitzen hinaussehen konnte und es nicht so wirkte, als stünde er einfach so herum.
Es gab vieles Andere, um die Zeit zu nutzen: Ausgedehnte Gesellschaftsspiele, mehrere Mittags- und Kaffeepausen oder Wanderungen, die offiziell als Bergbau-Exkursionen zum Zwecke der Fortbildung deklariert waren. Manche Tage vergingen angefangen mit einem langen Frühstück, nahtlos gefolgt von einem sehr langen gemeinsamen Mittagessen, das automatisch in ein noch längeres Kaffeetrinken überging. Doch es half alles nichts: Der morgendliche Gang zur Arbeit war für alle ein tiefer Blick in den Abgrund der Langeweile. Wie würde es nur weitergehen? Konnten sie etwas tun, um das Unausweichliche noch abzuwenden?
Die Mitarbeiter saßen in ihrem Großraumbüro und erwarteten jeden Morgen sehnlichst den Kurier, der die Post vom Postfach abholte und ihnen vorbeibrachte. Dieses Warten auf den Posteingang war inzwischen ihre Haupttätigkeit geworden, genaugenommen: die einzige Tätigkeit. „Post“ war gleichbedeutend mit „Arbeit“ geworden. So drängelten und schubsten sie im Bereich der Eingangstür, immer kurz bevor der Bote kommen würde. Jeder wollte der erste sein, um die Post schnellstens in Empfang zu nehmen. Sie sehnten in diesem Falle sogar unsachliche Schreiben, Mord-Drohungen und Erpresser-Briefe mit Androhungen von Prozesslawinen herbei. All das, was sie in den stressigen Jahren der Auseinandersetzungen gefürchtet hatten, wäre ihnen nun sehr willkommen gewesen.
Doch wo der Bote früher im Kastenwagen vorgefahren war, um dessen Heck jeden Tag um die gleiche Zeit zu öffnen, um mindestens zwei große Kartons bis oben hin gefüllt mit Briefen zwischen den Flügeltüren hervorzuholen und bei ihnen abzuliefern, kam er heute im kleinen Elektroauto, öffnete seine Jacke und holte aus der Innentasche zwei bis drei Briefe, von denen oftmals ein bis zwei falsch adressiert waren, sodass sie sie ihm am nächsten Tag wieder mitgeben mußten. Miller sprach die Vermutung aus, der Bote würde die Post absichtlich so nachlässig sortieren, weil er Mitleid mit ihnen hatte. Denn Jimi, der Bote, wußte genau: Ein falsch abgelieferter Brief bedeutete einen neuen Verwaltungsgang, der mit dem Ausfüllen mehrerer Formulare zu begleiten war. Öffnete ein Mitarbeiter den Brief irrtümlich, sofern er nicht darauf geachtet hatte, das der Brief nicht für die Zweigstelle des Bergbauschäden-Regulierungsamtes bestimmt war, waren sogar bis zu acht ausgefüllte Formulare notwendig, sowie zwei weitere, die man dem falschen Adressaten zur Rücksendung beifügte – das hatte man in einem Qualitäts-Zirkel ermittelt. Verirrte sich gar ein Brief aus Übersee zu ihnen, war die Woche gerettet: Dann waren alle mit der einen Retouren-Bearbeitung ausgelastet und konnten ihr organisatorisch-administratives Arbeitsgruppen-Know-how voll ausspielen.
McGovern hatte darüber hinaus eine komplexes System für die Ablage der Werbepost entwickelt. Auch Spam, die sich im Email-Filter verfing, wurde nicht etwa gelöscht sondern nach inhaltlichen Kriterien absortiert und archiviert. McGovern hatte angefangen, jede einzelne Spam persönlich und – sofern das durch eine korrekte Absenderangabe möglich erschien – auch postalisch zu beantworten. Dadurch war von außen betrachtet die Quantität der Koresspondenz im Verhältnis zu früher gar nicht mal so erheblich eingebrochen.
Trulli, die eigentlich wenig mehr als Archivierungs-Tätigkeiten zu vollführen hatte sowie den Tag über italienische Zeitungen las und ins Deutsche übersetzte, öffnete und schloß den ganzen Tag jede einzelne Tür, lauschte, ob es dabei ein Geräusch gab und ölte die Schaniere und Griffe. Gleiches tat sie seit letzter Woche mit den Fenstern. Die Kollegen waren dazu übergegangen, sich gesenseitig großzügig mit Kaugummis zu versorgen, weil jedes auf den Boden gespuckte und festgetretene Kaugummi von Trulli dankbar und rückstandslos mit einem Spachtel und einem eigens dafür entwickelten Aceton-Gemisch entfernt wurde.
Jeder war bemüht, im Rahmen seines Wirkens Sinn zu stiften. Es war allen klar, dass ihre Arbeitsplätze langsam höchst unsicher wurden, ja, dass ihre Institution in ihren Grundsätzen in Frage gestellt war – obwohl es von offizieller Seite noch keine Stellungnahme dazu gegeben hatte. Es war offenbar noch niemandem dort oben aufgefallen, dass das Büro und seine Tätigkeiten keinen Sinn mehr machten. Jeden Tag konnte eine Nachricht kommen, eine Email, ein Brief, vielleicht sogar ein persönlicher Besuch, der davon künden würde, dass alles vorbei war.
Aussichtlosigkeit machte sich breit. Manch ein Mitarbeiter starrte traurig auf die Maserung seines Holz-Schreibtisches und entdeckte in diesen Mustern Gesichter und seltsame Wesen, die offenbar immer genügend Arbeit hatten und stets an einem gedeckten Tisch saßen. Als sich diese Geschichten zu verselbständigen begannen und alle kurz davor waren, die Flucht in ihre Phantasie-Welten anzutreten, hatte Therese McMillan aus der Buchhaltung die rettende Idee, die sie sofort ihrem Vorgesetzten, der hinter seinem vorbildlich aufgeräumten Schreibtisch saß und durch das grandiose Panorama-Fenster zum Park hinausblickte, mitteilte.
Welche Idee könnte das gewesen sein? (Bitte nachfolgend über die Kommentar-Funktion aufschreiben.)
18 Responses to “Mitmach-Geschichte: Das unnütze Büro”
Hallo Barbara.
Ziemlich kurzer Texte für so’n Späßchen, das man preußisch ernst nehmen und nicht nur im Vorübergehen mitmachen sollte. Kann man an einem kurzen Wochenende ganz durchlesen, wenn man Frau und Kinder zur Oma verfrachtet hat. Hast du nicht was für die langen Weihnachtsabende, so bis kurz nach Silvester? Für die, die bis dahin von Frau und Kind verlassen wurden und sich vor lauter Langeweile grämen?
Naja, werd mir Mühe geben und mich melden, wenn ich mit dem Werk durch bin.
Gruß
Manni
Also das soll heißen: Der Text ist Dir zu lang. Du kannst auch nur die ersten drei und dann den letzten Absatz lesen, dann verstehst Du auch alles. Der Rest sind Details zu den Personen, die auch ein bißchen eine Stimmung wiedergeben sollen.
Richtig ist, dass die erste Mitmach-Geschichte nur ein Drittel des Umfangs der jetzigen hat. Frage: Soll sowas zunkünftig auf 2.000 Zeichen beschränkt bleiben? Wäre ja eine Möglichkeit.
Ich finde aber auch, dass Rolf in seiner Geschichte etwas zu viel offen gelassen hat. Bei mir gibt es schon mehr Charakterisierungen. Das braucht etwas Platz.
Therese McMillan war zwar Buchhalterin, aber wie hinter so mancher vermeintlich öden Existenz, verbargen sich auch hinter der Nickelbrille von Therry – wie ihre Kollegen sie nannten – einige erschreckende Abgründe. Als Buchhalterin hatte sie zwar immerhin noch einige Lohnabrechnungen zu bearbeiten, trotzdem setzte gerade ihr die Langeweile zu, wie kaum jemand anderen. Die viele freie Zeit verbrachte Therry im Internet. Die Schminktipps und Nagellacktrends konnte sie allerdings bald genauso rückwärts pfeifen, wie die meisten YouTube Videos. Auf der Suche nach immer neuer Beschäftigung wurden die Webseiten, die sie ansteuerte, mit den Jahren immer dubioser. Zum Schluss trieb sie sich nur noch auf illegalen Download-Seiten, in virtuellen Poker-Höhlen und mit kostenlosen Probe-Abos rum. Das meiste davon war natürlich übelste Abzocke, so dass die brave Buchhalterin zunehmend in den Schlammassel geriet: Rechnungen für angeblich abgeschlossene Software-Verträge stapelten sich, Mahnungen für automatisch verlängerte Zeitschriften-Abos wurde von mafiösen Inkasso-Briefen abgelöst. Und einmal stand sogar schon der Gerichtsvollzieher vor der Tür, weil sie ihre Spielschulden nicht beglichen hatte. Das hübsche Landhaus, auf das sie eine Hypothek nach der anderen aufgenommen hatte, war dank den Gebrüdern Lehman auch nichts mehr wert. Gelinde gesagt, stand Therese McMillan das Wasser schon seit einiger Zeit bis zum Hals. Mehr als ihre Kollegen je vermutet hätten.
Andererseits hatte sie in den all den Jahren auch einiges dazu gelernt: Eiskalte Abzocke. All die Briefe funktionierten ja schließlich nach dem gleichen Schema. Erst kam eine gesalzene Rechung, dann die Mahnung, und irgendwann erklärte einem ein findiger Anwalt seine Rechte, oder besser: die Zahlungspflicht. Das ganze Prinzip baute auf der natürlichen Angst, Dummheit und Obrigkeitstreue der Leute auf. „Das sind alles nur Schafe, Mr. Philips. Die zahlen alles, vor allem wenn der Brief von einer öffentlichen Behörde wie uns kommt.“ sagte Therry im Brustton der Überzeugung und schob zufrieden ihre Nickelbrille ein Stückchen die Nase hoch. Sie hatte fast zwanzig Minuten am Stück geredet und es war glasklar, dass die Regulierungsbehörde mit dieser Idee noch locker zehn Jahre weiter existieren konnte. Wasserdicht war die Sache auch noch. Auf Buchhalter ist eben Verlass.
Aber eines war auch Mr. Philips sofort klar: Davon dürfte niemals jemand erfahren, sonst wäre sie alle am Ende und zwar für immer. Unter absolut keinen Umständen durfte auch nur ein Tönchen davon nach außen dringen. Und so blieb es dann auch. Die Behörde existiert übrigens immer noch, obwohl der Bergbau in Großbritannien schon seit fast 25 Jahren brach liegt. Ideen muss man halt haben.
[…] Das unnütze Büro: eine Mitmach-Geschichte bei … endoplast […]
… und doch, auch wenn sie jahrzehntelang Stillschweigen bewahrt hatten und in ihrer Verschwiegenheit fest zueinander gestanden hatten, so brachte dies nicht die leise kratzende Stimme im Hinterkopf zum Schweigen, die für Mr. Philips nun schon seit zweieinhalb Jahrzehnten zu einem ständigen Begleiter geworden war. Insgeheim wartete er auf den Tag, an dem einer von ihnen sich beim falschen Zuhörer verplappern würde.
Am Ende war es Fulton, wenn auch ganz anders als Mr. Philips es sich vorgestellt hatte. Als niemand mehr daran geglaubt hatte und das Thema in den Zigarrettenpausen auf der Treppe der Hintertür zum Ziel gutmütigen Spotts geworden war, hatte der inzwischen auch nicht mehr junge Sachbearbeiter tatsächlich seinen Roman „Im Armenhaus“ fertig gestellt. Ihm war dabei die Sammelwut seines Kollegen McGovern zu Hilfe gekommen, denn dessen Archiv von Spam-Mails hatte ihm als unerschöpfliche Inspirationsquelle gedient. Unter dem Einfluss dieser jeglicher konventioneller Logik oder Syntax enthobenen Texte, war aus dem ursprünglich angedachten Protokoll bildungsbürgerlicher Abstiegsängste ein literarisches Monstrum geworden. Fulton vermischte seine Fieberträume vom Leben in der Gosse mit den vage dadaistischen Einlassungen der unerkannten Spam-Autoren und Schilderungen seines Arbeitsalltags zu einem irrlichternden Text, in dem sich Realität und Fiktion gemeinsam mit billigem Rotwein besoffen, um anschließend ungeschützten, klebrigen Sex unter einer Autobahn-Brücke zu haben.
So drückte es zumindest ein Kritiker der London Times aus, der vor Begeisterung über Fultons Roman in Schnappatmung verfiel. Denn entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte der ambitionierte Hobby-Autor für sein praktisch unverkäufliches Buch einen Verlag gefunden und „Im Armenhaus“ hatte die Aufmerksamkeit des Feuilletons erregt. Die Zeitungen waren voll von Berichten über die „neue literarische Stimme“ die sich da mit Macht aus der Provinz meldete und dem brutalen westlichen Gesellschaftsmodell gnadenlos den Spiegel vorhielt. Diese Deutung wurde häufig mit einer ganz bestimmten Passage begründet, in der in allen Details ein äußerst korruptes Postamt beschrieben wurde, in dem sich mafiöse Strukturen breit gemacht hatten.
Eines Freitagsnachmittags traf sich Mr, Philips mit McGovern und Therry McMillan zur Krisensitzung in seinem Büro. Die Lage wurde inzwischen unhaltbar, denn angesichts der Lobeshymmnen fingen die Leute tatsächlich an, Fultons Roman zu lesen. Dieser hatte schon angekündigt, dass er, wenn der Verkauf richtig lief, sofort kündigen und keinen Fuß mehr in „diese Verwahrungsanstalt“ setzen würde.
„Vielleicht hätte sich doch mal jemand von uns seinen Schund durchlesen sollen“ zischte Therry frustriert, „er hat uns ja oft genug damit auf der Tasche gelegen. Kann keiner sagen, er hätte es verheimlicht.“
„Die Hauptsache ist doch, dass wir Ruhe bewahren“, warf McGovern ein, „In dem Roman schreibt er, er hätte sich mit dem Eichhörnchen vor seinem Bürofenster über Sartre unterhalten, bevor er Sex mit Maggie Thatcher unter einer Autobahnbrücke hatte. Niemand glaubt, dass ein Kümmerling wie Fulton Sex hat, warum sollte jemand irgendetwas davon für bare Münze nehmen.“
Mr. Philips klopfte sich gedankenverloren mit einem Kugelschreiber an die Schneidezähne: er war nicht überzeugt: „Irgendjemand wird Fragen stellen… und ich muss euch ja nicht sagen, dass unser kleines Geschäft hier auf tönernen Füßen steht. Ein kleiner Stoß und alles bricht zusammen. Die Frage ist also, wie verhindern wir das? Wie gehen wir in dieser Sache vor?“
McGovern und Therry sagten nichts, doch ihre Gesichter sprachen Bände. In dem Moment brach die Spätnachmittagssonne durch die dichte Wolkendecke und warf durch die Fenster goldenes Licht auf das Regal mit den verstaubten Aktenordnern.
@planetbarb: So gründeten die Mitarbeiter des Bergbauschäden-Regulierungsamtes eine Stiftung, die Serienbriefe an alle Hausbesitzer in weiträumig gefassten Gebieten des Bergbaus verschickte. In denen wurde eine Solidaritätsabgabe erhoben, die die Kosten, vor allem die Lohnkosten, in Gänze deckten. Von einem Teil des Restbetrages, der nach dem zweiten Jahr als Überschuß übrig blieb, genehmigte sich Direktor Phillips ein noch größeres Panoramafenster. Therese McMillan wurde befördert und konnte mittels des höheren Lohns beginnen, ihre Schulden abzutragen.
DIESE EPISODE SCHLIESST UNMITTELBAR AN DIE EPISODE VON CHRISTOPHER DRÖGE EINEN KOMMENTAR WEITER OBEN AN.
Das Licht der Nachmittagssonne, das den Aktenschrank illuminierte, wurde von einem einzelnen, unscheinbaren Ordner mit einem besonderen Leuchten zurückgeworfen. Noch goldener, noch strahlender, noch transzendenter als alles, was die Belegschaft je mit eigenen Augen gesehen hatte.
Von ferne jucheite ein himmlischer Kastratenchor. Vielleicht war es auch nur ein gewöhnlicher Knabenchor, spekulierte Mr. Phillips, der in den Dingen der Transzendenz zur Bodenständigkeit neigte.
Ein zarte Träne glitzerte in Therrys Augen. McGoverns Herz hörte für eine Minute auf zu schlagen. Mr. Philips fragte sich, ob dies der rechte Augenblick sei, Gott für seine Güte zu danken. Er beantwortet sich die Frage selbst auf so verschlungenen Wegen, dass er bald nicht mehr wusste, wie die Frage ursprünglich lautete. Trulli blickte aus dem Inneren der untersten Schublade eines Aktenschranks auf und lies in Anbetracht dieses gewaltigen Augenblicks ihren Spachtel fallen. Sollte der Kaugummi in der hinteren Eckte doch kleben bleiben. McGoverns Herz startete nach dem einminütigen Silenzium in einem neuen, tänzelnden Rhythmus.
McDermitt sagte einfach: „Heilige Scheiße, da hätten wir Tölpel doch schon früher drauf kommen können.“ Während die anderen in angemessener Andacht verharrten, packte McDermitt den leuchtenden Aktenordner und patschte ihn auf das Lesepult.
„Kacke, der ist ja verschlossen.“ spuckte er enttäuscht. Ein alle Schmiedekunst spottendes Schloss zog eine grobe, um den Aktenordner geschlungene Kette fest zusammen.
Schwere, düstere Wolken verdeckten die fröhliche Nachmittagssonne und verfinsterten das ganze Land.
„Wie-hieß-sie-nochmal hatte damals den Auftrag, ihn sicher zu verschliessen.“, erinnerte Mr. Phillips sich. „Wir sind mit so wertvollem Gut immer recht manierlich umgegangen.“
„Scheiß drauf“, empfahl McDermitt, „wo ist der Schlüssel, Chef?“
Mr. Phillips schwieg. Er dachte aufs intensivste daran, dass es sich für den Geschäftsführer des hiesigen Bergbau-Schäden-Regulierungsamtes auf keinen Fall ziemte, in einer solch heiklen Situation zu schweigen. Vielmehr war es seine Aufgabe, diese Menschen in der Not zu führen und die Dinge zu regeln, wie sie geregelt werden mussten.
„Chef, Alter“, donnerte McDermitts Reibeisenstimme in seine friedvollen Gedanken, „Scheiße nochmal, wo ist der verdammte Schlüssel?“
Mr. Phillips erschrak. In Gedanken machte er sich eine Aktennotiz, die er bei Zeiten in eine echte Aktennotiz überführen würde und diese wiederum in eine Abmahnung McDermitts wegen ungebührlichen Verhaltens, die sich gewaschen hatte. Gleichzeitig sagte er automatisch: „Wie-hieß-sie-nochmal wird ihn haben.“
Alle sahen sich gegenseitig an. Dachte Mr. Phillips zuerst. In Wirklichkeit, das erkannte er sodann, sahen alle ihn an. Erwartungsvoll. Fordernd. Aufdringlich. Mr. Phillips machte sich ein paar Gedankenaktennotizen wegen ungebührlichem Verhalten, die er später in echte Aktennotizen zu überführen gedachte.
„Na, verdammt, wie heißt sie denn nochmal? Ihr wisst schon. Diese – na, es liegt mir auf der Zunge. Ich komm gleich drauf. Nur einen Moment. Ihr müsst doch wissen, wen ich meine. Die Dingens.“
Mr. Philips redetet und redete und schaffte es auf diese Weise, das erwartungsvolle, fordernde, ja aufdringliche Auf-ihn-Blicken einzudämmen. Jahrelanges Training, sagte er sich insgeheim und bemühte sich dann ganz willensstark, sein Grinsen wieder zu unterdrücken.
„Ok, hier kommt eine Dienstanweisung. Wir versammeln uns alle zu einer Besprechung in diesem Raum in genau 15 Minuten. Alle! Verstanden? Dann wird auch diese Dings, diese Frau, wie auch immer sie heißt, hier auftauchen und wir können sie nach ihrem Schlüssel fragen. So einfach ist das“
Voilà! Diese Deppen, dachte Mr. Phillips, werden nie verstehen, was brillante Menschenführung bedeutete. Deshalb, das war das Bedauerliche daran, würden sie auch ihn niemals so schätzen können, wie er es verdient hatte.
„Los, los, sagt allen Bescheid.“
Mr. Phillips Mitarbeiter scherten aus, um im ganzen Betrieb die Mitarbeiterversammlung auszurufen, sie per Aushang bekannt zu geben und zwei Einladungen per Email abzusenden. Die zweite Email mit dem richtigen Wortlaut der Einladung.
Noch vor Ende der anberaumten Zeit trudelten die Leute wieder ein. Mr. Phillips sah sich stolz um. Seine Leute!
„Alle vollzählig?“ fragte er. Ein rhetorische Frage, er konnte schließlich sehen, dass sie vollzählig waren. Seine Begeisterung von dieser seiner Idee schlug auf einmal mit einer Euphoriewelle in ihm hoch, so dass er nachsetze: „Durchzählen!“
Mr. Phillips lächelte überlegen. „Eins“, startete er selbst mit fester Stimme.
„Zwei“
„Drei“
„Vier“
„Äh, äh, äh, Fünf“.
Dumme Gans, dachte Mr. Phillips und machte sich eine Gedankenaktennotiz zu Trulli, die auf so erbärmliche Art einen Makel in seinen Versammlungs-Triumph brachte.
„Sechs“
„Sieben“.
Ein kurzes Schweigen folgte. Mr. Phillips wartete ungeduldig. Er hörte angestrengt in den Raum. Nichts. Er sah auf. „Wo ist die achte, diese Dings?“, wollte er wissen.
Unter seine Mitarbeiter war Unsicherheit gefahren.
„Therry, für wie viele Mitarbeiter stellen wir Lohnscheks aus?“
„Acht, Sir“, antwortet Therry prompt. Sie war gut in ihrem Job. Solche Zahlen hatte sie jederzeit parat.
Ein Schweigen folgte. Nicht wie das Schweigen drei Absätze weiter oben, das war wie die zarte Stille nach einem harmlosen kleinen Orkan. Nein, ein schweres, unerträgliches Schweigen drückte betonschwer auf Mr. Phillips Leute. Und mit ungefähr doppeltem Gewicht auf ihn selbst. Mit ungefähr dreifachem Gewicht, korrigierte Mr. Phillips seine eigenen Gedanken.
„Wer hat …, wer hat sie, diese Dings, zuletzt gesehen?“
„Susan“, halft Therry, „sie heißt Susan.“
„Also gut, wer hat Susan zuletzt gesehen?“
Erneutes Schweigen. Mr. Phillips war es leid, sich eine neue Metapher für dieses Schweigen zu überlegen. Das verdammte Schweigen sollte gefälligst für Immer aufhören.
„McDermitt, wann haben sie Susan zuletzt gesehen?“, donnerte Mr. Phillips. Er hatte sich McDermitt zufällig ausgewählt und mit millitärischer Stimme in die Enge getrieben. Darauf war er stolz. Führungsstärke war das.
McDermitt überlegte. Wenn McDermitt überlegte, sah er besonders blöd aus, fand Mr. Phillips und widerstand der Versuchung, McDermitts Überlegungen vorzeitig abzubrechen.
„1999, glaube ich.“ antwortet McDermitt lahm. „Sie hat mir während der Weihnachtsfeier auf dem Damenklo eine gepfeffert.“ McDermitt stich sich mit der Hand über die linke Backe, als sei der Schmerz noch heute zu spüren.
„So, so, 1999. Das ist lange her. Jemand da, der sie danach noch gesehen hat?“
Nervöses Schweigen. Seine Leute zupften sich an den Ärmeln, popelten in der Nase und waren vor allem eins: Nervös.
Mr. Phillips fragte sich, ob es für ihn an der Zeit sei, ebenfalls nervös zu werden. Eine Mitarbeiterin durch blosses im Büro nicht mehr auffinden können zu verlieren konnte in der Zentrale eine handfeste Aktennotiz über ihn verursachen. Ganz davon zu schweigen, dass dieser Vorfall bereits mehr als ein oder zwei Tage zurück lag und einen Schatten auf seine väterliche Fürsorglichkeit werfen konnte.
War es tatsächlich möglich, dass sie seit Jahren das Nichtvorhandensein einer unverzichtbaren Mitarbeiterin übersehen hatten? Einer von Acht, einer, die den Schlüssel aufbewahrte – DEN Schlüssel? Sie alle?
Der von einer Kette eng zusammengezogene Aktenordner interessierte sich für die Mitarbeiterversammlung nicht die Bohne. Er lag ruhig auf dem Pult und vermisste die angenehme Nachmittagssonne.
@Christopher: Mr. Phillips blinzelte in die Sonne hinein, erhob sich gedankenverloren und blickte auf die Regalwand. Als ordentliche Behörde hatten sie nicht einfach nur einen Betrug begangen sondern diesen nach allen Regeln verwaltungstechnischer Kunst abgesichert. Sie hatten ungerechtfertigterweise die Gebühr erhoben und dann einen politischen Entscheidungsprozess in Gang gesetzt, der dies nachträglich rechtfertigte. Allerdings nur um den Preis, dass die eingenommenen Gelder in einem Notfall-Fonds angelegt werden sollten, der zum Tragen kommen sollte, wenn es doch noch mal einen Bergschaden geben sollte und ein Hausbesitzer abzufinden wäre. Da es bei einem Jahrzehnte zurückliegenden Fall beim Absacken eines Mehrfamilienhauses einen Gasleitungsbruch mit einer erheblichen Explosion gegeben hatte, bei der Menschen umgekommen waren und deshalb stattliche Millionenbeträge zu zahlen gewesen waren, geisterte in Regierungskreisen die Angst vor unkalkulierbareb finanziellen Forderungen umher. Nur deshalb war die eigenmächtige Initiative des Bergbauschäden-Regulierungsamtes dennoch wohlwollend aufgenommen worden.
Die im Büro von Direktor Phillips anwesenden Mitarbeiter, sahen, wie sich ihr Geschäftsführer in das Licht der Sonne getaucht einem menschlichen Goldbarren gleich aus seinem Norman-Foster-Bürosessel erhoben hatte. Sie sahen in seinem Gesicht das Abbild intensiven Nachdenkens und hatten gerade gemeinsam darüber diskutiert, dass als sicher galt, dass sich zum Ende ihrer Dienstzeit – sie waren ja alle in die Jahre gekommen – ein Vertreter der Politik in den Vorstand der Stiftung begeben und den personellen Übergang mitgestalten würde. Ihr Fonds hatte Begehrlichkeiten geweckt. In Regierungskreisen wurde gerade ausgekungelt, wer in die Stiftung sollte. Der Regierungsvertreter würde die Bücher prüfen und entdecken, dass von dem Geld, das in den frisierten Geschäftsberichten stand, real kaum etwas vorhanden war.
Phillips blinzelte immer noch, so sehr, dass er das meiste vor sich nur mehr verschwommen sah. Er tat das auf dem Höhepunkt seiner neuronalen Tätigkeit, um sich nicht von äußeren Reizen ablenken lassen zu müssen. Phillips war lange Zeit Schach-Großmeister in West-Yorkshire gewesen und als begnadeter Stratege bekannt. Alle Blicke ruhten jetzt auf ihm. Die Anspannung, die im Raum spürbar war, hätte energetisch betrachtet Sellafield überflüssig gemacht. Dann focussierte Phillips den Rücken jenes Ordners im Regal, über den er die ganze Zeit nachgedacht hatte. Er zog ihn aus dem Regal, kehrte zu seinem Platz zurück, öffnete den Ordner dort, wo ein Postit oben aus den Schriftstücken hinausragte, und teilte an dieser Stelle die Papiere wie einst Moses das Rote Meer. Indem er sich über den Text der dort offenliegenden Seite beugte, beugten sich unbewußt alle anwesenden Mitarbeiter ebenfalls ein Stück vor.
„Sommerville“, sagte Phillips, „18 Millionen Pfund Sterling, meine Damen und Herren“. Phillips reihte die Worte, die er sprach, wie Perlen an einer Kette auf: Mit Wohlbedacht eins nach dem anderen. „Es war der größte Fall“, sprach er ruhig weiter. „Wir kommen aus der Sache nur heraus, wenn wir an einer Immobilie den größten Bergschaden aller Zeiten verursachen und dafür das vollständige Geld aus dem Fonds auszahlen. Natürlich müssen wir zwecks Refinanzierung gleichzeitig Empfänger der Zahlung sein. Wir veranlassen schließlich die fiktive Zahlung und schließen danach den mittellosen Fonds zu Null. Dann kann uns keiner mehr was.“
Die Anwesenden wirkten ratlos. Therese McMillan ergriff nach Sekunden der Beklommenheit das Wort: „Aber, Mr. Phillips, es sind offiziell 120 Millionen Pfund im Fonds, welche Immobilie ist so teuer? Keiner von uns hat eine, die auch nur annähernd so viel wert wäre.“ Mr. Phillips hatte diesen Einwand natürlich vorausgesehen. Fulton, der neben im saß, bildete sich ein, dass aus Richtung des Kopfes von Phillips das leise schnurrende Geräusch eines Uhrwerks zu vernehmen sei – so manifest beherrschte die Denkleistung des Direktors die Atmosphäre des Raumes. „Das ist klar“, sagte Phillips nüchtern. „Wir müssen einen Hochhauskomplex oder einen Wirtschaftsbetrieb erwerben und diesen untergehen lassen.“ Er blickte in die unendliche Schwärze mehrerer offener Münder.
Trulli hatte den Tag frei bekommen. „Frei“ bedeutete, dass sie zitternd zuhause an ihrem Schreibtisch saß und von dort telefonisch Firmen abklappern hatte, die zum Verkauf standen. „Abklappern“ bedeutete, sie hatte Termine zu vereinbaren, um sich die Unternehmen anzusehen und sich Mappen mit ersten allgemeinen Unternehmenszahlen zuschicken zu lassen. Sie sollte als Rechtsanwältin auftreten, die für einen Investor ein Unternehmen erwerben wollte. Trulli Giovencino stand der Schweiß auf der Stirn. 120 Millionen Pfund wogen schwer.
Der arglosesten und lebenslustigsten Mitarbeiterin des Bergbauschäden-Regulierungsamtes lag das Vorhaben schwer auf der Seele. Morgens hatte sie eine Stunde dagesessen und zum Fenster hinausgeblickt, war umhergegangen. Eine senkrechte Linie hatte ihre Stirn deutlich sichtbar geteilt. Dann hatte sie sich gesetzt, die oberste rechte Schublade des mit schwarzem Linoleum belegten Schreibtisches aufgezogen und ein Blatt herausgeholt, das darin zuoberst gelegen hatte. Es war gelocht und von ihr dem Büroordner mit den Kommunikationsdaten der vorgesetzten Dienststellen und assoziierten Ministerien entnommen worden. Auf dem Blatt standen einige Namen, Adressen und Telefonnummern. Es war ein Name darauf, den man anrufen würde, um sich über einen Vorgesetzten zu beschweren oder Korruption anzuzeigen. Die kleine Italienerin hatte Hemmungen, den Betrug weiter fortzuführen. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, die Sache hier und jetzt durch einen Anruf zu beenden.
Sie hatte lange vor dem Blatt gesessen. Ihr Blick hatte die Telefonnummer, die anzurufen war, fixiert. Dann war er zwischen dieser Telefonnummer und dem Telefon, das am Kopf des Schreibtisches ziemlich genau in der Mitte stand, hin- und hergewandert. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, ihr Gesicht bekam einen leichten Glanz. Sie kam ins Schwitzen. Sie sah nur noch den Hörer an, griff schließlich danach. Doch ehe sie ihn in die Hand bekam, klingelte es. Äußerst durchdringend. Sie nahm das Gespräch in dieser Schrecksekunde wie automatisch an, konnte nicht sprechen, dachte, dass, wer immer dran sein würde und was immer er sagen würde, Bestandteil einer schicksalhaften Fügung sein müßte. Sie würde nach diesem Gespräch, das sie für das vielleicht wichtigste in ihrem bisherigen Leben hielt, entweder den Anruf bei der Kontrollbehörde bestärkt tätigen oder den Verrat an den Arbeitskollegen für immer aufgeben.
Es war ein Institut am anderen Ende der Leitung, das eine Umfrage durchführte und um 5 Minuten ihrer Zeit bat. Sie legte, ohne ein Wort zu sagen, auf,konzentrierte sich und griff wieder zum Hörer. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen. Sie hatten Unrecht getan, das mußte hier und jetzt ein Ende haben. Doch bevor ihre nervöse Hand die glänzende Oberfläche des Hörers berühren konnte, schellte das Telefon erneut. Das Ringen schrillte noch lauter als vorher und es war ihr, als würde sie aus dem Tiefschlaf vom Klang ihres penetranten Weckers wachgerüttelt.
Ihre Mutter. Sie hatten lange nicht gesprochen. Mutter lebte in einem Reihenhäuschen in Liverpool, das sie immer noch abzahlte – mit tatkräftiger Unterstützung durch ihre Tochter, die die einzige von den 5 Töchtern war, die einen guten Job hatte. Sie war der Stolz ihrer Mutter, ein Stützpfeiler für den Rest der Familie. Sie telefonierten lange und Trulli entspannte sich unter den Worten ihrer Mutter, deren Worte sich ausschließlich zwischen den Zeilen befanden. Nach dem Gespräch griff Trulli nur noch zum Hörer, um Termine für einen möglichen Firmenkauf zu vereinbaren. Sie schwitzte nicht mehr.
Trulli trat das Gaspedal ihres Mini bis auf das Bodenblech durch. Mr. Phillips hatte sie in seiner beunruhigend ruhigen Art bestellt. Er habe nachgedacht, hatte er ihr mitgeteilt. Hatte Trulli sich bisher immer gewünscht, Mr. Phillips würde etwas weniger plappern, so fand sie, dass er diesmal etwas wortkarger war, als ihr gefiel.
„Ihr Plan, Trulli“, eröffnete er ihr, vor seinem Schreibtisch stehend, während sie sitzen musste, „ist großartig. Beinahe großartig. Das gibt Pluspunkte in kreativem Denken. Doch die Nacht über griff ich wegen Schlafstörungen mehrmals zum Taschenrechner. Zu meinem alten, griffigen TexasInstruments-Taschenrechner aus den 80iger Jahren, den ich niemals weggeben würde. Ich habe gerechnet, versucht einzuschlafen. Gerechnet. Und so weiter.“
Mr. Phillips machte eine seiner berühmten Kunstpausen, in der er erwartete, dass man ihn mit offenem Mund gespannt anstarrte. Trulli tat das Notwendige und starte Mr. Phillips mit offenem Mund gespannt an.
„Ihr Plan geht so: Wir geben die 120 Millionen für ein Unternehmen aus. Dieses Unternehmen lassen wir untergehen. Damit wir ihm 120 Millionen Entschädigungszahlungen entrichten können und unsere Angst vor den Blicken neugieriger Aussenstehender verlieren, weil unser Büro so nun wieder Sinn bekommt und der Vorwurf unnötig zur Seite geschafften Geldes, wo doch woanders Schulen auseinanderfallen, verfliegt. Richtig?“
Kunstpause. Trulli nickte.
„Aber wenn wir die 120 Millionen für ein Unternehmen ausgeben – sind die dann nicht weg? Ich meine, dann haben wir doch keine 120 Millionen mehr, um es offiziell als Entschädigungszahlungen auszugeben. Oder?“
Was jetzt folgte, war keine Kunstpause. Mr. Phillips meinte die Frage ernst und blickte Trulli voller Hoffnung an, sie könnte seine Bedenken zerschlagen. Das Missverständnis mit einem Lächeln aufklären. Den Gedankendreher entwirren.
Trulli atmete tief durch. Der Alte blickte einfach nichts. „Sir, wir kaufen die Immobilie mit einem Zahlungsziel von 60 Tagen. In dieser Zeit haben wir sie schon untergehen lassen und den Schaden reguliert und das Entschädigungsgeld auf ein Strohmannkonto überwiesen, so dass wir die Immobilie bezahlen können.
Mr. Phillips dachte nach. Diese Trulli hatte was auf dem Kasten. Das war wirklich blöd, weil er es sein musste, der hier etwas auf dem Kasten hatte.
„Wir schaffen es niemals, einen Entschädigungsvorgang dieser – oder irgendeiner anderen – Größenordnung in weniger als 8 Jahren zu regulieren. Würden wir schneller sein, hielten uns alle für Hans-guck-in-die-Luft’e. Besonders in der Regierung. Nein, ein Verwaltungsvorgang ist ein Verwaltungsvorgang ist ein Verwaltungsvorgang. Da ist nix unter acht Jahren zu machen.“
Mr. Phillips wedelte lebhaft mit den Armen, um seinen Einwand endgültig in die stickige Luft seines Büros zu zeichnen.
„Dann“, überlegte Trulli, „müssen wir ein Unternehmen untergehen lassen, das uns nicht gehört.“
„Barbarischer Vandalismus!“, stampfte Mr. Phillips auf, stutze einen Augenblick und setze nach: „Fabelhaft, so machen wir es.“
Mr. Phillips war ein nüchterner Mensch, der sich nur eine einzige Extravaganz leistete, die beruflich gesehen zugleich sein Geheimnis war. Zuhause rezitierte er aufs Innigste Shakespeare. Manchmal ließ er parallel die identische Tonaufnahme zeitgleich über zwei Stereoanlagen erklingen, nur einen Tacken zeitversetzt, so das sich ein metallisch klingender Akustikschatten ergab. Zu diesem unwirklich gesprochenen Soundtrack, den er nach den ersten Versen langsam herunterregelte, rezitierte er wie ein Jazzmusiker, die Versäumnisse des Sprechers in der Betonung ausnutzend und zugleich ausgleichend, indem er laut und akzentuiert, wie es auch im Büro seine Art war, darüber sprach, so als wäre seine Version die alleinige, die einzig gültige.
Niemand im Büro wußte von dieser Liebhaberei, die zugleich eine Marotte war. Denn Mr. Phillips beließ es nicht bei seiner Könnerschaft in der Rezitation der Originaltexte, nein, die deutsche Sprache hatte es ihm ebenso angetan, entsprach sie doch am ehesten seinem Streben nach größtmöglicher Exaktheit. Und so hatte es eine nicht aufzuhaltende Zwangsläufigkeit gehabt, dass er sich eines Tages die Übertragung von Shakespeare durch den deutschen Dichter Erich Fried zugelegt hatte. Waren doch die Dichter, die zugleich als Übersetzer arbeiteten, um ihr Geld zu verdienen, die prädestiniertesten Wanderer zwischen den Sprachgebirgen, Wandler und Transformatoren der spezifischen Sprachwelten. Er hatte sich nicht nur diese dreibändige Ausgabe mit Blattgold-Frontspitz zugelegt sondern zugleich ein zweites hölzernes Stehpult, damit der immer wieder neu in zeitgleich in der Original-Ausgabe und der anregenden Übsersetzung blättern und lesen konnte.
Mr. Phillips bediente sich einer speziellen Requisite, für die er sich im Falle einer Inkenntnisnahme durch seine Angestellten geschämt hätte: Seine Frau hatte ihm einen menschlichen Schädel geschenkt, den er hier und da in der Hand hielt, wenn er „Sein oder nicht sein“ zum besten gab. Ein Schädel war einfach ein unverzichtbares Requisit – zumal dieser Schädel zum Glück kein Original war, wie er wußte. Er bestand aus Kunststoff, war aber in Färbung und Materialität von einem Original nicht zu unterscheiden. Was er nicht wußte, war, dass seine Frau ihm tatsächlich einen echten Schädel aus dem Fundus eines den nackten bzw. aufgeschnittenen und konservierten Körper ausstellenden Pathologie-Unternehmens besorgt hatte und ihm – um ihn nicht zu beunruhigen – die Wahrheit vorenthalten hatte. Sie war in solchen Dingen herrlich unverkrampft. In jedem Falle wollte Mr. Phillips nicht, dass sein Hobby ruchbar wurde, weil er fürchtete, für morbide gehalten zu werden. Es hätte seiner Regeltreue und natürlichen Autorität widersprochen.
Nur einmal war er seinen Prinzipien nicht treu gewesen – und schon hatte das Unheil seinen unaufhaltsamen Lauf genommen. Im Zuge permanenter Unterbeschäftigung war im Amt ein Vacuum an Aktivitüäten entstanden, das trotz aller gebührlichen Anstrengung nicht mehr auszugleichen gewesen war. So hatte Mr. Phillips ein einziges mal den Schädel mit ins Büro genommen, um am Nachmittag einen langen Rezitationszyklus vor dem grandiosen Panorama seines Widescreen-Fensters zu zelebrieren. Nachdem er die Rezitation bendet hatte und sich zu deren Ergebnis nachträglich beglückwünschte, hatte er den Schädel fein säuberlich in das Auszugsfach seines Schreibtisches gelegt, das ursprünglich schwarze DIN A3-Hängeregister beherbergt hatte, die nach den Vorgaben des deutschen Pingel-Designers Otl Aicher entwickelt worden, inzwischen aber der elektronischen Revolution zum Opfer gefallen waenr, die im Amt vor allem Platz bgeschaffen hatte. Den Auszug verschloß er mit einem Schlüssel, von dem es kein Duplikat gab. So verließ Mr. Phillips an diesem Donnerstag das Büro nachhaltig sehr guter Dinge.
Was er nicht ahnen konnte, war, dass drei EDV-Experten praktisch zu dem Zeitpunkt das Gebäuzde betraten als er es verlassen hatte, da es Probleme mit dem zentralen Server gab. Im Laufe des Spät-Nachmittags konnten sie rekonstruieren, was geschehen war: McDermitt hatte eine Schwarzkopie eines 3D-Flugsimulators installiert und damit den Server, der ihre gesamten Daten verwaltete, an den Rand eines Totalabsturzes gebracht. Die EDV-Experten Mr. Stalp, Mr. Odne und Mrs.Muluciter bekamen das Problem relativ schnell in den Griff, bis sie ein Stuxnet-Virus entdeckten, das ihnen Kopfzerbrechen bereitete. Sie bekamen das Virus mit der vorhandenen Anti-Viren-Software, die speziell für Behörden geschrieben worden nicht in den Griff, bis sich McDermitt erinnerte, dass ein Patch gekommen war. Allerdings nicht online sondern aus Sicherheitsgründen auf CD. Nun war ihm klar, dass alle aktuelle Software im Softwarefach des Schreibtisches von Mr. Phillips in Sicherheitsverwahrung genommen wurde. McDermitt versuchte, Mr. Phillips zu erreichen, doch es gelang ihm nicht, weil Mr. Phillips mit seiner Frau bei der Neueröffnung eines Wiener Cafe’s in Westershire weilte und gar kein Handy besaß. McDermitt geriet unter Druck, weil die EDV-Experten ihn darauf hinwiesen, dass die ganze Anlage abstürzen könnte, eingeschlossen ein unwiderbringlicher Datenverlust, wenn nicht augenblicklich das Patch installiert würde. McDermitts wußte nicht, was er machen sollte. Er rief seine Lkollehgen an und gemeinsam beratschlagte man, dass McDermitt den Schreibtisch seines Weisungsbefugten aufzubrechen hatte, im Dienste eines höheren Gutes: Ihrer aller EDV-Sicherheit. Es schwang auch mit, dass das Virus eventuell ihre Daten ausspähen konnte und alle fragten sich, von wem es kam, vielleicht von einer verfeindeten Regierungsstelle, und ob nun alles auffliegen würde.
McDermitt, der ein Mann der Tat war, ging also zum Schreibtisch, brach die Schublade auf, nahm die CD-ROM ansich, brachte sie den EDV-Experten, ging ins Videokonferenz-Besprechungszimmer, brachte eine Konferenzschaltung auf den Weg und sagte in diesem Gespräch alles seinen Arbeitskollegen: „Mr. Phillips hat einen menscjlichen Schädel im Schreibtisch.“ Er führte weiter aus, dass sich am Hinterkopf des Schädels eine x-förmige Vertiefung befand, die auf einen Schlag mit großer Wucht hinwies. McFadden hatte so eine Narbe an seinem Hinterkopf, als der in seiner Jugend bei einer Zaunreparatur von seinem Nachbarn Whitehead mit einem x-förmigen Spezialwerrkzeug am Hinterkopf getroffen worden war. McFadden war ein ehemaligen Mitarbeiter gewesen, der unter mysteriösen Umständen vor sechs Jahren nicht zur Arbeit erschienen und für immer verschwunden geblieben war. „Ich glaube“, sagte McDermitt in die erschrockenen und zeilengerasterten Gesicher auf den Bildschirmen hinein, „Mr. Phillips hat McFadden ermordet.“
Der Satz hing im Raum wie ein unter Vorspiegelung der wissenschaftlichen Erkundung von japanischen Walfängern erlegter Blauwal, der in riesige Stücke zerteilt und an unmenschlich dicken Stricken aufgehängt worden war. Alle Gesichter auf den Bildschirmen waren schreckverzehrt, ja geradezu verunstaltet. Nichts Menschliches mehr konnte McDermitt einen Sekundenbruchteil lang auf den Bildschirmen erkennen. Es waren Abbilder einer natürlichen, völlig unverstellten Angst. Jeder Mitarbeiter des Amtes dachte, dass nun alles zuende sei. Jeder sah sich bereits hinter Gittern, für den Rest seines Lebens, geschnitten von der Verwandschaft, gemieden von Kindern, Mann oder Frau. Aussätzige in schmutzigen Gefängnissen, jenseits jeder auch nur denkbaren bürgerlichen Existenz. Das reine Grauen. Wer konnte Mr. Phillips jetzt noch trauen, wer konnte jetzt noch wissen, was in ihm vor sich ging, und ob er nicht ein falsches Spiel mit ihnen allen spielte? Würde man nach Abschluß ihres anstehenden Betruges ihrer aller Leichen in einem Stollen finden, was Mr. Phillips – ganz die Ruhe selbst, wie immer – ursächlich als Bergschaden ausgeben würde?
Mr. Phillips war währenddessen bei der Eröffnung des Wiener Cafe’s gar nicht bei der Sache. Seine Frau hatte sich reizend angezogen, was den meisten Anwesenden auffiel. Die Frauen beneideten sie, den Männern erschien sie noch begehrenswerter als sonst. Doch Mr. Phillips war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er rechnete mit Bezugnahme auf die Personalbesprechung, in der zutage getreten war, dass die Ausschüttung der Gelder überhaupt nicht kurzfristig erfolgen konnte und im Gegenteil Jahre dauern würde, hin und her, ob sich einzelne Teilschritte unter Umgehung der Abstimmungswege in der Hierarchie verkürzen ließen. Während seine Frau links von ihm saß und mit zuckersüßer Stimme mit Josef Groepels vom österreichischen Außenministerium flirtete, wirkte Mr. Phillips entspannt und unbeteiligt. So sah er immer aus, egal was er dachte. Übrigens eine Eigenschaft, die seine Angestellten nach dem Fund des Schädels zu einer Massenmörder-Theorie führte, weil jemand in die Video-Diskussionsrunde geworfen hatte, dass Mörder grundsätzlich einen emotionalen Defekt hätten, indem sie unfähig seien, das Leid ihrer Opfer wahrzunehmen. Mr. Phillips hatte alles durchgerechnet und kam zu dem Schluß, dass sich die Bearbeitungszeit zwar verkürzen ließ aber immer noch zu lange, er kam auf eine Zeitspanne von 4,37 Jahren, dauern würde. Längst war er aber dabei parallel zur Berechnung der Zeitspanne Alternativ-Szenarien durchzuspielen.
Es war klar, dass eine dramatische Verkürzung des Bearbeitungszeitraumes, für die es in der Geschichte der Verwaltungswissenschaften kein Beispiel gab, nur gelingen konnte, wenn eine politische Entscheidung von oben gefällt werden würde, derzufolge alle normalen Verwaltungswege obsolet wären, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, wodurch die Regierungspartei im Falle eines Skandals nicht schlecht dastünde. Würde ein potenziell gewaltiger Bergschaden kommen, eine dringende moralisch bewertete Notlage, die die sofortige Ausschüttung der Stiftungs-Gelder nötig machen würde, würde es zugleich einen öffentlichen Aufschrei geben. Die Notlage hätte zur Folge, dass niemand Schnelligkeit oder Höhe der Auszahlung negativ bewerten würde. Im Gegenteil, Mr. Phippis sah vor seinem geistigen Auge die Schlagzeilen, die ein positives Behörden-Engineering belobigten, den Bürokratieabbau und das prompte Handeln der Politik als mustergültig darstellten. Welche Immobilie käme in Frage, dies zu erreichen? Es könnte eine öffentliche Bibliothek sein, die unschätzbare Kulturgüter beherbergte, oder ein Museum. Orte jedenfalls, die zeitweise leerstanden, damit niemand zu Schaden käme. Oder ein Regierungsgebäude. Eine Schwierigkeit wäre, dass sich die Immobilie in einem Bergbaugebiet befinden mußte.
Der Frau von Mr. Phillips war eine Serviette zu Boden gefallen. Ihr Gesprächspartner, mit dem sie eine angeregte halbe Stunde verbracht hatte, bückte sich und reichte sie ihr gentlemen-like mit einem charmanten Lächeln, das Mr. Phillips hätte Sorgen machen müssen. Denn seine Frau wirkte angeheitert und den Schmeicheleien und den bewundernden Blicken eines Kavaliers offenbar sehr zugeneigt. Mr. Phillips jedoch hatte ein weit größeres Problem zu lösen, das nicht nur seine Zukunft und die seiner Familie betraf sondern auch die aller seiner Angestellten. Joseph Goepels war aufgestanden und verabschiedete sich förmlich. Als er jedoch von Mrs. Phillips die Hand reichte, fand diese einen kleinen Zettel in ihrer Hand vor, auf dem Goepels in geschwungener k.u.k.-Schrift angefragt hatte, ob er sie in einer Viertel-Stunde, nach einem Telefonat, das er zu erledigen hatte, auf einen Prosecco an der Privat-Bar im rückwärtigen Teil des Cafehauses erwarten dürfe. Mrs. Phillips warf einen verstohlenen Blick in Richtung ihres Gatten, der jedoch in Gedanken versunken vor sich hin blickte. Sie kannte das von ihm und wußte, dass sich in seinem Kopf rund um die Uhr verwaltungsorientierte Arbeitsprozesse vollzogen. Mrs. Phillips hingegen war ein spontaner Mensch und zog sofort in Erwägung, der leicht abenteuerlichen Aufforderung nachzukommen. Sie wollte diesen gelungenen Abend genießen, basta. Außerdem war ihr der Alkohol etwas zu Kopf gestiegen, was nach einem Prosecco als Abschluß – oder Übergang ? – verlangte.
Mr. Phillips war währenddessen ein weiterer Gedanke gekommen, den er gedreht und gewendet und schließlich für gut befunden hatte. Es gab eine Institution, die seit Gründung seiner Behörde versucht hatte, ihm und seinen Mitarbeitern das Leben schwer zu machen. Es war der „Verein zur Bekämpfung der Bergbausubventionen“, den es exakt genauso lange gab wie das „Bergbau-Schaden-Regulierungsamt“. Denn als dessen Gründung damals auf der politischen Bühne öffentlichwirksam beschlossen worden war, hatte der politisch neoliberal-rechts-konservative Gegenspieler, die „Liberal Party“, sofort eine Art Gegenverein gegründet, dessen Hauptaufgabe in der Öffentlichkeitsarbeit bestand. Die Gründung dieses antagonistischen Vereines hatte sozusagen eine mehrere Jahrhunderte zurückreichende Tradition. Es waren auf 1513 datierte Schriftstücke gefunden worden, nach denen es zur damaligen Zeit Bestrebungen gegeben hatte, sich aus grundsätzlichen Erwägungen bezüglich der Ausbeutung der Erde gegen Bergbau, gegen jede Art von Bergbau, zu wenden. Diese Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt und entsprachen in keiner Weise dem Zeitgeist anno dazumal. Jahrhunderte später war der Gedanke aber von verschiedenen politischen Kräften aufgegriffen und zaghaft verfolgt worden. Die LP schließlich hatte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die damaligen Bestrebungen umgedeutet und propagierte eine Wirtschaftsdarwinismus, zu dem gehörte, jedwede Subventionen zu streichen. Ihrer neoliberalen Sichtweise zufolge war also nicht nur der hoch subventionierte Bergbau Teufelszeug sondern auch das „Bergbau-Schaden-Regulierungsamt“, das im Folge der Schäden, die dieser Bergbau gezeitigt hatte, Milliarden zu verteilen gehabt hatte. Die LP vertrat den Standpunkt, dass der Bergbau selbst – der aber zum Teil verstaatlicht war, was die Sache zusätzlich verkomplizierte – für die Folgeschäden zu haften hatte. So führte sie über den „Verein zur Bekämpfung der Bergbausubventionen“ in den Medien insbesondere einen erbitterten Feldzug gegen das „Bergbau-Schaden-Regulierungsamt“ und seine Tätigkeit. Im Einzelfall hatte dieser Verein ihn, Mr. Phillips, auf wenig statthafte Art in die Bedroullie gebracht.
Der „Verein zur Bekämpfung der Bergbausubventionen“ residierte nicht sehr weit vom „Bergbau-Schaden-Regulierungsamt“ entfernt in einem alten Schloß, das 950 von König Eadred gebaut worden war und mitten im Zentrum des Bergbaugebietes lag. Schon die Immoblie selbst stellte einen Wert dar: Mr. Phillips schätzte sie auf 18,53 Millionen, wobei eine erhebliche Wertminderung durch eben diese Lage im Herzen des die Erdkruste zerfurchenden Bergbau-Epizentrums gegeben war, die für einen potenziellen Investor ein Risiko darstellen würde. Im Gegenteil, perfiderweise schienen LP und der „Verein zur Bekämpfung der Bergbausubventionen“ sogar regelrecht darauf spekuliert zu haben, dass ihre Immobilie eines Tages Risse bekommen würde bzw, am besten gleich vollends im Erdreich verschwinden sollte, damit sie dies medial gegen den Bergbau, seine Befürworter und seine Abwickler wenden konnte. Es geschah aber nichts. Die LP hatte deshalb nach und nach, nachdem das Schloß aufs schönste renoviert worden war, das weitläufige Schloß für Partei-Konvente, Fortbildungen und allerlei Events genutzt. Im Laufe der Jahre war zunächst eine Studien-Bibliothek eingerichtet worden, die laufend ergänzt und erweitert worden war. Sie galt bald als inoffizielle „Partei“-Bibliothek, die zahllose wertvolle Buch-Ausgaben aus mehreren Jahrhunderten beherbergte. Es hatte Schenkungen aus parteinahen Kreisen und den Stiftungen gegeben, neben Büchern auch Stiche, Pergamente und Korrespondenzen. In der Region war so das Schloß Eadreds ein einmaliger kulturhistorischer Hort geworden und der Wert dieser Bibliothek war mit Geld nicht mehr aufzuwiegen. Was läge näher, als dieses Anwesen dem Erdreich zu übereignen, somit einem hartnäckigen Widersacher eins auszuwischen und ihm eine Lektion zu erteilen, von der er sich nicht mehr erholen würde? Andererseits müsste die Regierungspartei aus PR-Gründen im Ernstfall natürlich dem politischen Todfeind LP zur Hilfe eilen und dafür sorgen, dass dieser, der durch den Untergang seiner ideologischen Hochburg aufs Schrecklichste gebeutelt werden würde, nach der Katastrophe schnellstens einen finanziellen Ausgleich erhalten müsste. Alles andere würde in den Medien als politische Schadenfreude gescholten werden und unter Umständen Wählerstimmen kosten. Die Politik würde also alle verwaltungstechnischen Hürden sogleich aus dem Weg räumen, um den Weg für eine zügige Regulierung frei zu machen.
Blieb als weiteres Problem, dass das Geld für die Auszahlung bis auf ein paar Millionen nur in den Büchern vorhanden war. Entweder müsste die Überweisung fingiert werden, sodann der Empfänger jemand aus dem „Bergbau-Schaden-Regulierungsamt“ sein, einer seiner Leute, der über einen Strohmann vorher die Immobilie in seine Hände bekommen könnte. Das war nicht abwegig. Denn die klamme LP dachte, wie man hörte, hinter den Kulissen bereits darüber nach, neben anderen Werten auch das Schloß zu versilbern, um flüssige Mittel in die Hände zu bekommen. Man könnte einen Vorvertrag mit Anzahlung einer kleineren Summe in die Wege leiten und die Zahlung der Hauptsumme finanzieren. Wie diese Finanzierung zustande kommen könnte, blieb dem Finanzgeschick und der Kreativität des „Bergbau-Schaden-Regulierungsamtes“ überlassen.
Während sich Mr. Phillips für die Tragweite und Tiefe dieser seiner Gedanken innerlich selbst beglückwünschte, war seine Frau aufgestanden und hatte sich entschuldigt. Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen, das ein Rendezvous hatte. Ihr Mann hatte nur beiläufig genickt, er dachte wohl, sie ginge sich frisch machen. Das hatte sie noch nie getan: Einfach so zu einem anderen Mann zu gehen, der ihr eine geheime Botschaft in die Hand drückte. Mr. Phillips war heute, wie ihr aufgefallen war, jedoch äußerst einsilbig und unaufmerksam. Sie hatte daher keine Skrupel, fragte einen Kellner, der ihr in den weitläufigenen Räumlichkeiten des Wiener Café entgegenkam, nach der Bar, und befolgte die Kurz-Wegbeschreibung, die sie zu Goepels führen würde. Goepels hatte ihr imponiert. Er hatte den ganz typischen Wiener Charme, der selbst sein leicht ungelenkes Englisch überspielte und sogar sympathisch wirken ließ. Zudem konnte er die sprachlichen Unzulänglichkeiten durch ein gerüttelt Maß an Empathie mehr als ausgleichen. Er war dabei aufmerksam und zuvorkommend – genau das Gegenteil ihres Mannes. Goepels sah blendend aus: Dass er Sport trieb, wie er erzählt hatte, sah man seiner tadellosen Figur an. Letztlich kam hinzu, dass er etwas jünger war als sie und Mrs. Phillips sich durch seine Aufmerksamkeiten mehr als geschmeichelt fühlte.
Mrs. Phillips war aufgewühlt, als sie den Raum betrat. Sie blickte auf mit dunklem Holz vertäfelte Wände und eine lange Theke, ebenfalls aus dunklem Holz, die in Form von zwei großen gegeneinander verschränkten „L’s“ den Raum beherrschte. Am Ende, auf der rechten Seite saß Joseph Goepels. Zuvorkommend stand er sofort auf, strich seine Anzugjacke glatt, ging auf Mrs. Phillips zu, gab ihr mit einer fließenden Verbeugung einen Handkuß und gab seiner Freude Ausdruck, dass sie seiner Einladung gefolgt war. So unverkrampft ging er mit der Situation um, dass sich ihre Aufgeregtheit in Heiterkeit auflöste. Hinter ihr hörte man die Tür. Ein Kellner betrat den etwas zu gedämpft beleuchteten Raum und fragte nach ihren Wünschen. Goepels bestellte bester Laune eine Flasche Prosecco und ließ Mrs. Phillips Platz nehmen. Er ging in Richtung Tür und drehte die Beleuchtung, die ihren Platz an der Theke beleuchtete etwas heller, während er den Rest des Raumes noch mehr abdunkelte.
„Ich wußte gar nicht“, eröffnete sie das Gespräch „dass wir alleine sind, hier im Hinterzimmer“. Sie lachte frech. Goepels ging nonchalant darüber hinweg und entgegnete, dass man so besser und ungestörter reden könne. „Den Klang Ihrer Stimme möchte ich ungestört genießen“, säuselte er. „Das Licht hier läßt ihre Schönheit in besonderer Weise zutage treten“. Während er dies gesagt hatte, hatte er sich erlaubt mit seiner rechten Hand ihre Wange zu berühren, so als wollte er eine ihrer Locken aus ihrem Gesicht streichen. Sie hätte nicht sagen können warum, aber sie fühlte sich jetzt sehr zu ihm hingezogen. Ein Wort mehr hätte genügt und sie hätte sich in seine Arme fallen lassen. Er schien auf der gleichen Wellenlänge. Aber ehe er etwas sagen konnte, ging die Tür. Es war jetzt auch genau der richtige Zeitpunkt für einen Prosecco. Beide blickten sich in die Augen, als die Flasche rechts neben ihnen außerhalb des Lichtkegels geöffnet wurde und der Prosecco in die Gläser floß. „Ich erlaube mir, auch ein Glas mitzutrinken“, hörte Mrs. Phillips erschrocken die charakteristische Stimme ihres Mannes. Er stand seelenruhig da, hinter der Theke, reichte ihnen die Gläser hinüber und stieß mit ihnen an. Mrs. Phillips wäre fast im Boden versunken. Das war typisch für ihn. Natürlich hatte er doch alles mitgekriegt, das Gespräch zwischen Goepels und ihr, den Zettel. Sie war verblüfft und überrascht. Doch ihr Mann verzog wie immer keine Miene, Goepels bewahrte Haltung und schlug vor, auf die Schönheit von Mrs. Phillips anzustoßen. Die Gläser klirrten, wenig später saßen Mr. Und Mrs. Phillips im Fond eines Taxis und fuhren nach Hause. Sie unterhielten sich betont angeregt über das Wiener Cafe und den gelungenen Abend. „Ich hatte mich noch gefragt, wo bleibt sie denn?“, sagte Mr. Phillips wie beiläufig. „Ich habe den Kellner gefragt, wo Du hingegangen bist und er hat gesagt, dass Du Dich bei einem Cocktail entspannen wolltest. Hast Du Dich angeregt unterhalten?“ – „Ja, Herr Goepels ist sehr geistreich und charmant“. Mr. Phillips sah sie an. „Habe ich Dich gestört?“ fragte er zurückhaltend. „Ja“, entgegnete sie, „aber es war gut so“. Sie hatte ihre Hand in die seine gelegt. Er umschloß sie zärtlich.
McDermitt blätterte in einem Buch über den japanischen Walfischfang, über den sie im Büro letztens gesprochen hatten. Der Walfang hatte in Japan keinerlei Tradition. Dennoch verbreitet das japanische „Institut für Walfang“ bis zum heutigen Tage krude angeblich wissenschaftliche Ergebnisse um den Walfang zu rechtfertigen, obwohl seit 1986 ein internationales Moratorium besteht, das den Walfang verbietet. Mal wird behauptet, es gehe darum, die Fischbestände vor den Walen zu schützen, obwohl die nur durch die vom Menschen betriebene Überfischung aussterben. Ein anderes Mal heißt es, es würden nur Wale gejagd, die nicht gefährdet sind, was aber auch nicht stimmt. Selbst der japanische Markt braucht das Walfleisch nicht. Warum also das alles? McDermitt kratzte sich am Kopf, als er weiterlas. Die Lösung war ganz einfach: Solange es Walfang gibt, solange hatte auch das Institut für Walfang seine Daseinsberechtigung.
McDermitt ließ das Buch sinken und dachte nach. Sie mußten dafür sorgen, dass es wieder Bergbau gab. Gab es den Bergbau, war ihre Existenz gesichert. Aber wie konnte man das hinkriegen? Vielleicht sollte man sich mal mit einem EXperten für so etwas zusammensetzen.
McDermitt stellte seine Idee in der nächsten Mitarbeiterrunde vor. Eine Welle der Begeisterung schlug ihm für seinen Ansatz entgegen. Es wurden mehrere Hängeregister dafür angelegt und eine Nummernsystematik erarbeitet, die die noch folgenden Unterideen katalogisieren und auffindbar machen würde. Man kam überein, ein unverbindliches Gespräch mit einem PR-Consultant und einem Unternehmensberater zu führen, der sich in der Übernahme von Industrieobjekten einen Namen gemacht und dabei auch einiges Renomee in der industriellen Peripherie des Bergbauwesens erworben hatte. Die Telefonate wurden direkt geführt und protokolliert, es wurde ein Doppeltermin für nächste Woche Dienstag vereinbart. McDermitt stellte sich vor, dass man zusammen mit diesen Experten von einer lockeren Gesprächsrunde im großen Sitzungssaal mit praktisch allen Mitarbeitern des „Bergbau-Schäden-Regulierungsamtes“ in ein handfestes Brainstorming hinübergleiten könnte, in dem man Ideen erarbeiten konnte, wie der Bergbau in England wieder ein feste Größe werden konnte. Dabei sollten unter Umständen die Parameter, wie Kohle zukünftig abzubauen wäre, erheblich geändert werden: Stollen mit größerem Durchmesser und näher an der Erdoberfläche verlaufen, damit mehr Erdreich nachgab, mehr Bergschäden geschagen und das Amt in seiner vollen Leistungsfähigkeit wieder gefordert war.
Mr. Phillips war ein musikalischer Mensch. Das Piano zuhause blieb keine Woche ungenutzt. Pein bereitete ihm nur, dass er „Hausmusik“ goutierte, während seine Tochter permanent „Housemusik“ hörte. Er ging an diesem Sonntag Morgen auf dem schweren Teppich im Wohnraum langsam auf und ab und ließ sich vom basslastigen, monotonen Rhythmus, der ganz leise aber unter mormalen Umständen trotzdem nervend war und unter der Tür des Zimmers seiner Tochter hervorwummerte, nicht aus der Ruhe bringen.
Er dachte immerzu an Joseph Goepels. „Österreich, Österreich…“, murmelte er in einer Art Mantra, um das, über das er angestrengt nachdachte, besser zu fassen. Der zweite Weltkrieg. Der gescheiterte Angriff des nationalsozialistischen Deutschland gegen England. Der U-Boot-Krieg. Mr. Phillips war ein Visionär, aber einer, der in der Lage war, Gegankengänge, die bezüglich Zeit und Raum unendlich weit entfernt schienen, schnurstracks in machbare Dimensionen zu überführen. „Österreich, Österreich, Österreich…“ – hatte nicht Kurt Waldheim, der in den 70er Jahren Generalsekretär der Vereinten Nationen und bis 1992 sogar Bundespräsident Österreichs gewesen war, eine nationalsozialistische Vergangenheit gehabt. War von diesem kleinen Land nicht immer wieder eine sehr radikal anmutende Aggressivität ausgegangen? Was wäre, wenn man eine Drohkulisse aufbauen würde, die von Österreich ausgehen könnte. Ja, Österreich gegen England! Vor dieser Bedrohung müssten die englischen Rüstungskonzerne, müsste der industriell-millitärische Komplex neue Anstrengungen der Aufrüstung veranlassen: Mehr Panzer, mehr Flugzeuge, mehr Schiffe und U-Boote, das hieß mehr Stahl und mehr Kohle würden gebraucht werden. Der heimische Bergbau würde als verlässliche Energiequelle aktiviert werden. Damit stünde sein Amt wieder im Mittelpunkt des Interesses.
Aber wie könnte man Österreich dazu bringen, England anzugreifen, oder zumindest aggressive Ausfallschritte zu vollführen? Es musste eine feindliche Handlung, mit der iemand gerechnet hätte, fingiert werden. Beispielsweise könnte eine Österreichische Atombombe auf den Weg gebracht werden und vor ihrer Detonation aufgefunden werden. Das würde den Blutdruck im Regierungshaus steigen lassen.
Mr. Phillips war zu seinem Schreibtisch gegangen, hatte sich einen Notizzettel gegriffen und notierte mit gerunzelter Stirn und leicht nach hinten geneigtem Kopf durch den unteren Teil seiner Gleitsichtbrille guckend „Spaltbares Material besorgen. Bezugsquelle ermitteln?“
Mr. Phillips war mit der Hand am Geländer und leisen Schritten nach oben gegangen. Von links hörte er durch die geschlossene Tür seine Frau leise telefonieren. Hin und wieder gab sie ein gedämpftes Lachen von sich. Sie sprach wohl mit Goepels.
Von Rechts wummerten aus dem Zimmer von Katie die Basslautsprecher etwas lauter und unter der Tür zog ein unverwechselbarer Geruch hervor. Sonst war von dort keinerlei Geräusch zu vernehmen. Mr. Phillips roch das Haschisch. Er mochte den Geruch, der ihn an grünen Tee erinnerte – was er aber gegenüber seiner Tochter keinesfalls zugeben konnte. Er wußte, dass seine Tochter speziell in der dunklen Jahreszeit dasaß, oft von Freunden umringt, und an einer mit Haschisch prall gefüllten Wasserpfeife zog.
Seine Tochter hatte die Spontanität und Lebenslust von seiner Frau und den analytischen Verstand von ihrem Vater übernommen. Sie war eine außergewöhnlich gute Schülerin, die ihren Eltern diesbezüglich keinerlei Sorgen bereitete. Mr. Phillips mußte an Phillip, ihren Bruder, denken. Der hatte seinen Weg gemacht wie auch sie den ihren gehen würde – auch wenn Phillip sich recht bedenklicher Mittel bedient hatte, um seine Ziele zu erreichen. Jetzt arbeitete er in einer Funktion für sein Land, über die niemand gerne sprach.
Mr. Phillips stand einen Augenblick unentschlossen im Flur zwischen den beiden Türen, hinter denen sich Szenen abspielten, denen er eigentlich Einhalt gebieten müsste: Links seine Frau, die offenbar dabei war, den Weg für einen Liebhaber zu bereiten. Rechts seine Tochter, die eine aus seiner Sicht zu unterbindende Lebenskultur zelebrierte und in der Lockerheit ihres Umgangs vielleicht sogar ihre Mutter ermunterte, sich der bürgerlichen Fesseln etwas zu entledigen.
Doch er wandte sich um, und ging ins Schlafzimmer. Beide ahnten nichts davon, in welcher Zwickmühle er steckte. Mr. Phillips trat ins Schlafzimmer ein und stand vor der Umkleidekammer, deren Tür ein Spiegel war. Er betrachtete sich und stellte sich die rhetorische Frage, ob nicht er vor allem auf dem Weg war, seine angestammte Existenz zu transformieren. Er stand auf der Schwelle zum Verbrechen. Er war ein Raubtier, das seine finanzielle Existenz, die die Grundlage für das behagliche Sicherheitsgefühl seiner Familie bildete, verteidigen wollte. Konnte seine Frau noch so herrlich unbefangen flirten, wenn sie wüsste, dass ihre ökonomische Existenz, mit all den Kosten die daran hingen, sich schneller als sie dachten ändern könnte? Würde seine Tochter ihr Leben noch genießen, wenn sie neben Schule und Studium ihr Geld selbst verdienen müsste? Und hätte in diesem Falle sein Sohn nicht doch noch Recht behalten, nach all den Konflikten, die sie miteinander gehabt hatten?
Für Mr. Phillips war jedoch etwas Anderes das Entscheidende: Er sah sich als Familienoberhaupt, dessen Stärke von seinem Beruf als leitendem Beamten ausging. Er stellte etwas dar. Das dachte er auch, als er sich jetzt eingehend im Spiegel betrachtete. Es war für ihn nicht denkbar, frühpensioniert zu sein und niemanden mehr zu haben, dem man Dienstanweisungen schreiben konnte. Immerhin hatte er in den Jahrzehnten über einige Milliarden Pfund verfügt, was man nicht über viele Menschen im Land sagen konnte. Hinzu kam, dass die Pension im Vorruhestand zwar für eine normales Leben ausreichte, dass aber politische Verwerfungen der letzten Jahre das Blatt gewendet hatten. Es waren Krankenversicherung und in zwar geringem Umfang anteilig auch Sozialabgaben zu entrichten. Weitere Einschnitte für beamtete Pensionäre waren in der politischen Diskusssion bzw. schon in der Planung. Das war eine Bedrohung für seinen Status. Ein Tier, das man in die Ecke drängt, fängt an zu beissen. Wie auch immer – das Ende seiner Behörde hätte einen radikalen Einschnitt mitten durch das bisher abgesicherte Leben seiner Familie bedeutet. Würde das geschehen, könnte er nicht mehr in den Spiegel blicken.
Doch jetzt tat er es noch einmal. Er betrachtete sich, seinen Körper, die Ausstrahlung die er hatte. Die Focussierung seiner Augen ließ nach und in dem Maße, in dem eine Unschärfe sein Bild diffuser werden ließ, vereinfachte sich die Außenkontur seines Körpers, wurde rundlicher und schließlich sah er sie, als wäre sie aus ihm selbst erwachsen: Die österreichische Bombe, die schlimmste Bedrohung Englands seit dem zweiten Weltkrieg, die Wegbereiterin einer Renaissance des englischen Bergbaus.