„Die Linke“ profitiert von einer Alleinstellung in sozialen Belangen. Wie läuft ihr Wahlkampf? Die Partei hat gestern in Recklinghausen, der Kreisstadt des bevölkerungsreichsten Kreises, zu einer Wahlveranstaltung mit Zugpferd Gregor Gysi eingeladen. Einmal mehr konnte Gysi stimmgewaltig, rhetorisch versiert und zugleich authentisch die Sozialkarte ausspielen. Das kam an bei der Zuhörerschaft. Und in der Tat: „Die Linke“ hat zur Zeit im Bereich der Sozialpolitik nicht viel Konkurrenz in anderen politischen Lagern zu fürchten.
„Die Linke“ als Sammelbecken für sozial Gefährdete
Denn genausowenig wie die sozialdemokratische Bundespolitik noch sehr sozialdemokratisch im ursprünglichen Sinne wäre, genausowenig machen die Grünen, die inzwischen eine Partei der Gebildeten und besser Verdienenden geworden sind, eine explizite Sozialpolitik. Viel Raum also für selbsternannte Arbeiterführer wie Landesvater Jürgen Rüttgers, der aber inzwischen mit den Geistern, die er rief, Glaubwürdigkeitskämpfe bestehen muß. Und noch mehr Raum für „Die Linke“, die zwar mehr als genug Probleme zu wälzen hat, aber es versteht, diejenigen, die durch die Versorgungs- und Beachtungsraster der Gesellschaft zu fallen drohen oder bereits gefallen sind, um sich zu scharen.
„Die Linke“ im Westen Deutschlands
Dass dies nicht nur im Osten Deutschlands gelingt sondern zunehmend auch in westlichen Bundesländern, wurde von Wahl zu Wahl klarer – und gestern in Recklinghausen sowieso. Dabei zeigte sich bei dieser kleinen Wahlveranstaltung eigentlich fast alles, was auch im großen, bundesweiten Maßstab zählt und zählen wird.
Bundespolitik und Lokalpolitik
Zunächst war das Gefälle zwischen Rhetorik und Argumentation der Lokalpolitiker – die Recklinghäuser Landtagskandidaten waren anwesend sowie der stellvertretende Landessprecher von „Die Linke“-NRW, Ralf Michalsky – und Gregor Gysi aus der Bundespartei augenfällig. Auf der einen Seite zum Teil undifferenzierte Aussagen wie „Entmachtet die Milliardäre“, auf der anderen Seite zwingende Begründungs-Stakkato-Ketten von Gregor Gysi.
Zum Beispiel Ackermann und der Deutsche Bank-Bonus
Der erläuterte zum Beispiel, warum der Steuerzahler die „10 Millionen Euro“ bezahlen muß, die der Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann als Bonus eingestrichen habe. (Tatsächlich hat der für 2009 1,3 Millionen Fixgehalt und 8,3 Millionen Bonus erhalten.) Die nämlich habe er nur erhalten, weil die Deutsche Bank hohe Gewinne vorzuweisen gehabt hätte. Da die Deutsche Bank 10 Milliarden Euro an Krediten in der Hype Real Estate, die verstaatlicht worden war, stecken gehabt hatte, hätte sie bei deren möglicher Insolvenz keinen Gewinn ausweisen können. „Verstaatlichung“ bedeute aber nichts anderes, als dass der Steuerzahler sein Geld dafür gegeben hätte, die Hypo Real Estate zu retten und damit auch die Einlagen der Deutschen Bank dort gesichert hätte. Deren Gewinn habe den Bonus für Ackermann aber erst möglich gemacht. Die atemlose Stringenz dieses Vortrages nötigt Respekt ab, auch wenn die Argumentation nicht sauber ist und die Fakten nicht ganz stimmen.
Nicht Details sind wichtig: Das große Ganze zählt
Das ist in der Überzeugungsarbeit, die „Die Linke“ für sich leistet, aber gar nicht wichtig. Viel wichtiger ist die große Linie. Und die deckt einen Bereich ab, der in der Politik der herrschenden Parteien zu kurz kommt bzw. gar nicht vorkommt. Das Gundrauschen einer solchen Wahlveranstaltung ist die allgemeine Angst vor „Hartz IV“ oder die konkrete Angst lange, zu lange oder ein Leben lang „Hartz IV“ beziehen zu müssen und damit sozial deklassiert zu sein. Es ist zudem eine diffuse Angst vor einer ungewissen Zukunft. Hinzu kommt, dass sogar die Mittelschicht und der unternehmerische Mittelstand ihre Grundlagen zu verlieren drohen. Neben denen, die die vorherrschende Politik aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ablehnen, hören all jene, die unzufrieden sind, all die Protestwähler, genau zu, wenn „Die Linke“ ihre Aussagen macht.
Polit-Entertainment: Dramaturgie der Rhetorik
Den so genannten Wirtschaftsparteien trauen manche nicht mehr, das Ruder herumreissen zu können. Die viel beschworene Polarisierung der Gesellschaft zeigt sich hier sehr deutlich. Die politische Rhetorik, die sich bei den Betroffenen, die zu Zielgruppen werden, Gehör verschaffen will, muß stringent sein aber nicht in jedem Detail stimmen. Im Zweifelsfall ist die Pointe oder der Gag an der richtigen Stelle entscheidend. Und Gregor Gysi beherrscht diese Kunst der zwingenden politischen Rede, die in regelmäßigen Abständen auch kleine Lacher einbaut, gut. Politische Vermittlungsarbeit als Entertainment – das hat er drauf wie kaum ein anderer Politiker.
Saubere Weste ohne Regierungsverantwortung
Man mag ahnen, dass Oskar Lafontaine, der weniger charmant aber durchaus mitreissend für „Die Linke“ bundesweit reden konnte, der Partei fehlen wird. „Die Linke“ aber hat es prinzipiell gar nicht so schwer. Da sie als Partei noch keine Regierungsverantwortung hatte, kann sie süffisant CDU/CSU, FDP, SPD und „Bündnis90/Die Grünen“ in einen Topf werfen, zum Beispiel wenn es um die Entscheidung für den Krieg in Afghanistan geht. „Die Linke“ profiliert sich so als einzige Friedenspartei und profitiert zumindest argumentativ von der Weltwirtschaftskrise. Waren während der Krise jene Parteien gefragt, denen man traditionell Wirtschaftskompetenz attestiert hatte – CDU/CSU und FDP – kann sich das Blatt in Nordrhein-Westfalen nun wenden, wenn zu viele Bürger kein Vertrauen in die Regierungsparteien und deren Zukunftsvision mehr haben.
Wahrheit und Relevanz politischer Parolen
„Die Linke“ profitiert natürlich von der Schwäche der SPD. Das gesamte Machtgefüge in Bund und Land NRW gerät aber ebenfalls durcheinander wenn die Linke stärker wird und die FDP auf ihre ursprüngliche Größe zurückfedert. Aber was hat die Linke auch zu verlieren? Sie wird in diesen Zeiten permanenter Unzufriedenheit und des wirtschaftlichen Wandels wohl kaum schwächer werden. Sie agiert offensiv und treibt die etablierte Parteienlandschaft verbal wie eine Schweineherde durch das Dorf. Wobei Gregor Gysi selbstsicher klingt wie ein Gewinner. Wer auf dem Recklinghäuser Marktplatz gestanden und zugehört hat, kann sich wohl kaum der Wirkung seiner Rede entziehen. Man spürt, dass nicht alles wahr sein muß, damit sich grundsätzlich eine Relevanz des Gesagten für das Leben der Bürger ergibt.
Polit-Marketing: Die Positionierung zählt
Betrachtet man die Parteien-Landschaft unter dem Marketing-Gesichtspunkt, ergibt sich, dass eine Partei fast ebenso wie beispielsweise ein herkömmlicher Dienstleister oder ein Produkt eine Positionierung haben muss. Die Positionierung gibt im Marketing an, wo jemand im Verhältnis zur Konkurrenz steht und was er an unverwechselbarem Nutzen bietet. Dort, wo dies klar herausgebildet ist, ergibt sich eine Alleinstellung, die eine hohe Attraktivität für die anvisierte Zielgruppe hat. Eine große Partei wie die CDU hat diese Positionierung im Laufe der Zeit verwässert und wird dadurch verwechselbarer – und austauschbar. Die CDU hat bei der letzten Bundestagswahl Stimmen an die FDP verloren und die SPD hat ihre klare Positionierung, die mal im Sozialen lag, als Bundespartei fast ganz aufgegeben durch Entscheidungen, die den Interessen ihrer Stammwählerschaft eklatant zuwiderliefen.
Versäumnisse der etablierten Parteien: Chance für „Die Linke“
Die Linke als neuere Partei fungiert als Sammelbecken für diejenigen, die eine Sozialpolitik wünschen oder benötigen. Die bürgerliche Politik hat außer Acht gelassen, dass sich die Stimmen all jener, die in Deutschland durchs soziale Räderwerk gefallen sind, zu einer stattlichen Wählerschaft summieren können. Hinzu kommen die Schwachstellen der Regierungsparteien, die sich zum Beispiel im unsäglichen Hickhack um die Begrifflichkeit des Afghanistan-Krieges manifestieren aber auch in der Hilflosigkeit Reformen anzupacken, einer Akzeptanz in der Wählerschaft zuzuführen und dann erfolgreich umzusetzen.
Wie realistisch ist „Die Linke“ operativ?
Gysi hat in seiner Rede immer wieder die Kritik aufgegriffen, wie die Umwälzungen, die „Die Linke“ erreichen will, tatsächlich realistisch zu realisieren sind. Man hat der Linken zu Recht utopische Vorstellungen vorgeworfen, ohne dass sie realistische Lösungswege dafür benennen könnte. Tatsächlich ist man nach den Aussagen in der Gysi-Rede diesbezüglich nur im Einzelfall schlauer als vorher geworden. Viele Wege, die er andeutet, klingen realpolitisch wenig machbar. Aber ganz gleich: Was zählt ist, dass „Die Linke“ klar erkennbar für etwas steht. Sie hat eine deutliche Positionierung und keinen Konkurrenten weit und breit. Dieser Umstand wird „Die Linke“ auch in Nordrhein-Westfalen, ein Wahl-Land zumal inklusive des gebeutelten Ruhrgebiets, weiterbringen.
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8 Responses to “NRW-Wahlkampf (3): Linke Sozialpolitik als Alleinstellungsmerkmal”
Endlich ein Beitrag zum Wahlkampf bei dem man nicht das Gefühl hat einen interessen-gesteuerten Think-Tank vor sich zu haben.
Die SPD-NRW hat keine soziale Kompetenz mehr seit der Zeit von Ministerpräsident Clement. Auch Ulla Schmidt mit der 1. Kopfsteuer Praxisgebühr und P. Steinbrück mit „Real Estate“ waren schlechte Vorbilder.
Von Schröder braucht man garnicht zu sprechen. Die Linke hat da recht.
Wird sie das auch umsetzen können, was sie verspricht?
[…] Wahlkampfstädte Recklinghausen und Essen Wir hatten am 16. April von der „Die Linke“-Wahlveranstaltung in der Kreisstadt Recklinghausen mit Gregor Gysi […]
[…] als man gedacht hätte. Laut Umfragen wird es knapp für „Die Linke“. Kommt sie in den Landtag oder nicht? […]
Lafontaine hat wieder mal Recht =)
[…] – Lafontaine übt Kritik im Bundestag – NRW-Wahlkampf: „Die Linke“ mit Lafontaine in Essen – NRW-Wahlkampf: Linke Sozialpolitik als Alleinstellungsmerkmal – Lafontaine’s Comeback:Lafo schlägt […]
[…] der Öffentlichkeit verständlich machen. Keiner im Deutschen Bundestag macht das so brilliant wie Gregor Gysi von „Die Linke“. Gut reden kann aber niemand, der stromlinienförmig ist. Denn seine Plattitüden würden […]
[…] Idee: Gregor Gysi 2007 in einem Interview, in dem es nur um Angela Merkel, die Politikerin, geht. Es wird ein Gregor Gysi gezeigt, der um ein vermeintlich objektives Bild eines linken Politikers auf eine rechte Politikerin ringt. […]