Travis Charest (links) guckt verlegen zu Boden, weil der Comicheld „Metabaron“ sauer auf ihn ist. Charest hat wieder einmal eine Geschichte nicht zu Ende gezeichnet. Der Artikel erklärt, warum dieser Comiczeichner nie zum Ende kommt.
Eine der seltsamsten Geschichten in der Historie der Comics: Der beste Comiczeichner von allen hat keine Lust zu zeichnen. Von einem Künstler zu sagen, er sei der allerbeste, ist oft ursächlich der Begeisterungsfähigkeit des Kritikers geschuldet, meistens aber nicht dem Können des Artisten. Der beste zu sein, ist sowieso relativ, denn es gibt zahlreiche Zeichner mit unterschiedlichen Talenten und Schwerpunkten – und wenn überhaupt einer aus der Masse des Durchschnitts herausragt, dann ist das lediglich eine Momentaufnahme.
Talente in der Comicwelt
Dennoch läßt sich phasenweise – sagen wir: über ein paar Jahre hinweg – immer mal wieder ein Talent ausmachen, dass kaum Grenzen kennt. Man denke an den Franzosen Jean Giraud und sein Pseudonym Moebius oder den Amerikaner Richard Corben, die selbst heute, im Rentenalter, immer noch in der Lage sind, Erstaunliches zu liefern. (Moebius ist am 10. März 2012 in Paris gestornen.) Beide können eigentlich alles, was man als Comiczeichner braucht, im Übermaß und beide waren stilistische Wegbereiter bzw. Innovatoren. Bei Corben war es die ausgefeilte Spritzpistolentechnik und die neuartige Farbgebung, bei Giraud bzw. Moebius die den alten Stichen zum Beispiel Meister Dürers entlehnten und mit dem stumpfen Strich des Filzstiftes abgewandelten Schraffurtechniken, die schon ohne Farbe Räumlichkeit erzeugen. Beide waren darüber hinaus Erfinder besonders phantastischer Welten, bei denen sie ihre Kunstfertigkeit ausleben konnten.
Comic-Kunst: Richard Corben und Moebius, die Alleskönner
Beide schienen keine Probleme zu haben, irgendetwas nicht zeichnen und abbilden zu können. Sie sind Meister der Anatomie: Der eine, Corben, zeichnet Anatomien übertrieben, exessiv und auffällig, alles ist groß und prall bei ihm: primäre sowie sekundäre Geschlechtsorgane preisen sich an wie im Porno, Muskeln türmen sich auf zu Gebirgen. Was immer Corben zeichnet, sieht nach Bodybuilding aus. Weil er permanent nackte Menschen gezeichnet und gemalt hat, ist das augenfällig. Giraud, zeichnet in Sachen Anatomie auch in seinen Bewegungsabläufen und perspektivischen Verkürzungen unspektakulär-zurückhaltend, dennoch sieht man, dass er den Menschen als zu zeichnendes Motiv beherrscht. Insgesamt waren beide mal die unerreichten Meister des Genres „fantastischer Erwachsenen-Comic“, weil sie sowohl schwarz-weiß mit Tusche Eindrückliches produzieren als auch farbig malen bzw, colorieren können. Moebius ist mit seinen Gemälden sogar bis in die etablierete Kunst vorgedrungen, Corben hat einige Auftrags-Colorationen ausgeführt, z.b. für eine Neuedition von Will Eisners Spirit, die übrigens in Deutschland in einer achtbändigen Carlsen-Verlag/Reiner Feest Verlag-Buchedition veröffentlicht wurde.
Förderlich: Brüche in der Perfektion
Dennoch ist eines wichtig: In der Regel macht das Interessante an einem Zeichner nicht nur sein Können aus sondern gerade das, was er nicht gut kann. Nicht Perfektion macht attraktiv, nicht alles vollständig zu können, sondern bei aller Fertigkeit etwas auch nicht zu können, das Brüche in die Perfektion bringt, das das chaotische Element einfließen läßt. Dieser Faktor ist oft das eigentlich Unverwechselbare am jeweiligen Zeichenstil. Wäre das nicht der Fall, würde sich unter Umständen Langeweile breit machen. Perfektionisten zeichnen ihre Comics manchmal regelrecht zu Tode, weil sie keine Fehler machen möchten.
Wachstum: Dabei zusehen, wie ein Zeichner sich entwickelt
Eine weitere Eigenschaft, die einen Zeichner ausmacht, ist die stetige Weiterentwicklung seiner Kunstfertigkeit. Gerade Jean Giraud konnte man dabei zusehen, wie er sich vom traditionell gezeichneten Leutnant Blueberry zum Science-Fiction-Künstler gewandelt hat, der atemberaubende neue zeichnerische und auch erzählerische Möglichkeiten erkundet hat.
Abgabeschluß: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
Als „Image-Comics“, ein damals aufstrebender neuer Verlag – als Gegenmodell zu Marvel und DC von abtrünnigen Zeichnern und Autoren wie Todd McFarlane oder Jim Lee gegründet – mit einer Fülle an neuen Heft-Serien die etablierten Verlage das Fürchten lehrte, waren viele neue Ideen dabei und viele Zeichner und Autoren höchst motiviert, da sie den alten Verlagen zeigen wollten, dass sie es besser konnten. Dabei fiel ein Zeichner auf: Travis Charest mit seinen Beiträgen zu „WildC.A.T.s“. Er ließ nicht nur durch seine zeichnerischen Fähigkeiten aufmerken, sondern auch dadurch, dass er nie fertig wurde mit seinen Zeichnungen und ihm andere Zeichner unter die Arme greifen mussten, damit die jeweilige Geschichte noch komplett gedruckt werden konnte.
Travis Charest: Das schmale Werk des großen Zeichners
Der Grund für diese Unzuverlässigkeit? Der Kanadier Charest ist ein hoffnungsloser Perfektionist, ein Wahnsinniger und künstlerischer Kontrollfreak, der sich in seine Zeichenwelten hineinsteigert, bis sie seinen Ansprüchen genügen. Wie unrealistisch er ist, zeigt der Umstand, dass er beim Metabaron-Album nicht nur alles vorzeichen, tuschen und colorieren sondern sogar handlettern wollte. Hätte er dies auch noch getan, wären vermutlich noch weniger Seiten fertig geworden. Es war die gleiche nicht zu zügelnde Manie, die auch Corben und Moebius in ihrer Hochphase zu Innovatoren hatte werden lassen. Allerdings waren die beiden trotz ihres aufwendigen Zeichenstils äußerst produktive Vielzeichner. Charest hat lange nicht so viel vorzuweisen: Außer „WildC.A.T.s“ eine ganze Reihe an kleineren früheren Comicarbeiten, die eigene Serie „Space Girl“, die für ihn den Charakter einer Lockerungsübung hatte und jede Menge Comicheft-Cover und sonstige kleine Arbeiten. Wie er selbst sagt, ist er wohl kein Zeichner, der die Kontinuität für ein monatlich erscheinendes Comicheft sicherstellen kann.
Die Ikonografie der zeichnerischen Epik
An Covern gefällt ihm das mehr Illustrative, das weniger auf Storys und ihre Anforderungen Rücksicht nehmen muß, auch das ikonogfisch Getragene. Obwohl er ein Zeichner ist, der Actionsequenzen durchchoreografieren kann, liegt ihm offenbar die Darstellung statischer Sujets mehr, weil er hier der Geschlossenheit der Form mehr frönen kann. Das war bereits bei seinen „WildC.A.T.s“-Arbeiten aufgefallen. Viele sahen in ihm damals die Zukunft der Comics, hielten ihn für den besten Zeichner Amerikas (er ist Kanadier), nur, es fehlte noch das Opus Magnum, um sein Image zu zementieren. Charest sagt, dass er gerne mal 12 Hefte der „X-Men“-Serie zeichnen würde, um Teil dieser berühmten Serie zu werden – das wäre aber an Stetigkeit wohl das Maximale, das er zustande brächte. „WildC.A.T.s“ galt als furiose Einstiegsarbeit, so wie „Daredevil“ seinerzeit für Frank Miller als Zeichner oder „Electra:Assasin“ für den Zeichner Bill Sienkievicz. Wann würde er den Durchbruch schaffen und ein ganzes Album, eine lange Grafic-Novel vorlegen?
„WildC.A.T.s“ als Sprungbrett
Charest ist ein eigenständiger Stilist, der mit ausgefeilten Schraffuren arbeitet. Seine Striche setzt er mit der Präzision eines Chirurgen. In seiner Formensprache neigt er zur Abstrahierung. Charest hat in „WildC.A.T.s“ Charakteren grafisch neue Seiten abgewonnen. Er zeigt weder beim Schwarz-weiß-Zeichnen noch bei gemalten oder in Mischtechnik gestalteten Bildern Schwächen. Der Kenner konnte in seinem Werk erkennen, dass da noch viel Luft nach oben ist, bis die Grenze seines Talents zu erreichen wäre. Was würde also kommen? Und wann?
Einer unter vielen
Charest ist aber beileibe nicht der einzige Zeichner der mittleren Generation nachdem die „Alten“ wie Jack Kirby, Neal Adams und andere sich überlebt hatten. Man denke nur an Frank Quitely oder Humberto Ramos, nicht zu reden von der jüngsten Generation mit beispielsweise Simone Bianchi, von dem hier schon ausführlich die Rede war. Ein Comickünstler jedoch, der gleichermaßen bei Tuschzeichnungen und bei gemalten Bildern eigene Akzente setzt, bleibt die absolute Ausnahme – und das macht Zeichner wie Moebius, Corben, Barry Windsor Smith oder Charest aus.
Die Kooperation von Alexander Jodorowski und Travis Charest
Charest wurde nach Europa berufen. Alejandro Jodorowsky, der als Autor mit Zeichner Moebius die „Incal“-Saga geschaffen hatte, ahnte vielleicht, dass er mit Charest nach den europäischen Top-Zeichnern Moebius und Juan Gimenez einen in Amerika geachteten Künstler verpflichten konnte, der das grafische Niveau aufnehmen und sogar potenziell toppen könnte. Zudem hätte er für die Sage vom „Metabaron“, als Spin-off von „John Difool: Der Incal“, eine weitere Akzeptanzverbreiterung erreichen können.
Schmale Ausbeute: Pro Jahr durchschnittlich nur 3 Seiten
Im April 2000 ging Charest also nach Paris, lebte dort 7 Jahre lang – und fertigte in dieser Zeit lediglich 29 Seiten plus Titel des Albums „Die Waffen des Meta-Barons“. Wie er in einem Interview sagte, war die Arbeit mühselig. Er habe an einer Seite jeweils wochenlang gesessen. Der Grund, nach Paris zu gehen, lag nach den Querelen bei „Image-Comics“ für Charest vor allem darin begründet, einen legendären Comic zu zeichnen, an dem bereits sein Idol Moebius gearbeitet hatte. „John Difool: Der Incal“, die gemeinsame Serie von Moebius und Alejandro Jodorowsky, in dem die Figur des „Metabaron“ zum ersten Mal auftaucht, bevor sie sich mit diversen eigenen Albenreihen selbstständig gemacht hat, ist in der Welt der Comics ein Meilenstein. Hinzu kam, dass es Charest reizte, eine Zeit lang in Paris zu leben, wobei er im Interview meckerte, dass alle Fernsehprogramme in Französisch waren, es keine Video-Games gab und zudem wenig Geld vorhanden war. Letztlich verlor Jodorowsky dann aber entnervt die Lust an der langgestreckten Zusammenarbeit und beauftragte Zoran Janjetov damit, die Geschichte zuende zu führen, damit das Album überhaupt noch erscheinen konnte. Der Band liegt seit Mai 2009 auch in Deutsch vor.
Metabaron: Motivierter Irrsinn
Das Niveau der Arbeiten von Charest in diesem Band ist unterschiedlich: Den Seiten sieht man zum Teil den motivierten Irrsinn eines Perfektionisten an. Die Zeichnungen müssten eigentlich doppelt so groß gedruckt werden, damit sich ihr Detailreichtum eschließt – so perfekt ausgearbeitet sind die ersten und letzten Seiten seines Beitrages. Die Seiten zwischendrin lassen nach. Die Bilder dort wirken teils zu glatt, sind weniger intensiv ausgearbeitet. Die Doppelseitenlayouts schwanken zwischen experimentellen Ansätzen ohne horizontale oder vertikale Begrenzungslinien und Langeweile oder gestalterischer Unausgegorenheit. Die letzte Doppelseite wieder zeigt die alten Stärken. Der Zeichner, der die Geschichte zuende führen sollte, hat offensichtlich den Undank der Aufgabe erkannt und die Zeichnungen runtergeschruppt. Das Gefälle zwischen Charest, der auch noch als Loser eine Klasse für sich ist, und Janetov, der offensichtlich keinen Bock hatte, ist für jeden augenfällig und die eigentliche Katastrophe. Der Band kann dennoch, zumindest was die Seiten 9-15 betrifft, als Sternstunde einer seltenen Form von „Comic-Kunst“ gelten.
Ein Amerikaner in Paris
Man sieht der unterschiedlichen Qualität der Zeichnungen an, dass sie nicht an einem Stück entstanden sein können. Nun ist die Frage, was Charest 7 Jahre lang in der schönen Stadt Paris sonst so gemacht hat. Ganz einfach: Er hat eine unüberschaubare Zahl an Titelblättern gezeichnet. Das ist auch so ein Trend: Lag in vergangenen Zeiten der Schwerpunkt eines Zeichners klar auf umfangreicheren Werken wie Alben oder Comic-Heft-Serien, hat sich das heutige Tätigkeitsfeld eines Zeichners diversifiziert. Top-Zeichner arbeiten heute an den Designs und Illustrationen für Set-Cards, Games und vor allem Titelblättern meist für Comichefte – und immer öfter auch für den Film. Schon Altmeister Frank Frazetta ist weniger berühmt für seine ansonsten ungewöhnlich gut gezeichneten Comicgeschichten und viel mehr als Cover-Artist für Conan-Romane und vieles andere. Für einen Zeichner sind diese Aufträge oft überschaubarer als umfangreiche Comicgeschichten, in eine einzelne Zeichnung kann man u.U. Mehr Detailverliebtheit legen – und das ganze läßt sich schneller abrechnen.
Nur ein scheinbarer Gegensatz: Talent und Produktionsprozess
Travis Charest entzieht sich dem vereinnahmenden Produktionsprozess bisher erfolgreich und verausgabt sich eher in Einzelarbeiten, die er aus dem Ärmel schüttelt, die ihn als Künstler aber nur bedingt weiterbringen. Mal sind diese Zeichnungen gut, manchmal aber auch nur Durchschnitt. Wie wird nun die Geschichte um Charest weitergehen? Wird ein großer Zeichner sich in Unwichtigem verschleißen und nichts hinterlassen, was man bleibend mit seinem Namen verbinden könnte? Oder wird er einen Weg finden, seine sehr ausführliche Arbeitsweise in einen Produktionsprozess münden zu lassen, der ihm gerecht wird? Er hat es jedenfalls geschafft, durch seine Arbeitsweise sein Werk so weit zu verknappen, dass viele einem neuen Werk von ihm entgegenfiebern. Es ist zudem gut zu wissen, dass in der amerikanischen Knochenmühle „Comic-Industrie“ Freiräume existieren.
Fazit: Hochbegabte haben’s schwer
Aber schön wäre es doch, wenn man sehen könnte, wie sich das Können von Travis Charest endlich weiter entfalten würde. Das Dilemma der Hochbegabung liegt darin begründet, dass ein so Gesegneter alles locker vom Hocker machen kann, es stellt sich in normalen Zusammenhängen eine Unterforderung ein, die aber dazu beitragen kann, dass das Talent, das sich selbst genug ist und nicht mehr nach Höherem strebt, verkommt. Im Bereich der Comics ist eine Comicheft-Miniserie oder eine Grafic-Novel in Buchform die große Herausforderung, die für das Talent eine Art Streck- und Dehnübung ist. Nur bei solchen Projekten wird es gefordert und ist gezwungen, seine Grenzen auszuweiten. So endet diese Geschichte vom Zeichner, der nicht viel zeichnen wollte, mit dem Glauben daran, dass sich Talent im Übermaß schon seinen Weg suchen wird.
In dem nachfolgenden sehr sehenswerten Feature ist der erste Zeichner Dave Gibbons („Watchmen“), der zweite Travis Charest:
3 Responses to “Comic-Kunst: Travis Charest und das Dilemma der Hochbegabung”
[…] Charest ist bekannt als meisterhafter Comickünstler. Was zeichnet ihn aus? Es war hier eine Würdigung seines zeichnerischen Werkes zu lesen, und man konnte im Artikel in vier Videos, […]
[…] festen Abgabe-Schlüssen. Davon konnte man an dieser Stelle schon im Zusammenhang mit dem Zeichner Travis Charest lesen. Auch Zeichner wie Hal Foster, dessen Prinz Eisenherz ein Klasssiker der Comics geworden ist […]
[…] hat stets an Transformationen geglaubt. Er hatte Alejandro Jodorowsky als Initiator einer Dune-Verfilmung nach dem Roman von Frank Herbert getroffen, für ihn gearbeitet […]