Der Bundespräsident frohlockt, wo er über den Niedergang der deutschen Lyrik eigentlich weinen sollte. Heute endet in Berlin die Festwoche zum 10jährigen Jubiläum von Lyrikline.org, einer Website, die sich vorbildlich der literarischen Form „Gedicht“ verschrieben hat. (Ab 20 Uhr kann man den Abschluß der Veranstaltung per Live-Stream verfolgen.) Interessant ist, was Horst Köhler dazu zu sagen hatte.
Ein Auszug aus der ansonsten guten Rede des Bundespräsidenten zur Eröffnung der Veranstaltung: „Warum sind für viele Menschen Gedichte so wichtig – und vorgelesene Gedichte erst recht? Weil Gedichte die dichteste, anspruchvollste und subjektivste Art sind, Sprache zu gestalten, die Welt ins Wort zu fassen, die Existenz zum Ausdruck zu bringen. Gedichte sind kleine Widerstandsnester gegen die riesige Flut an Sprachmüll, der uns täglich aus allen Medien entgegenkommt.“ Nun, wir alle wissen, dass Festreden oft dazu da sind, einem Sachverhalt die positiven Seiten abzugewinnen. Das aber, was Köhler hier gesagt hat, ist gleich in mehreren Punkten vollständig falsch, eigentlich ist in nahezu jedem Fall des zitierten Teils eher das Gegenteil des Gesagten richtig.
Lyrik – eine aussterbende Kunst
Lyrik ist außer vielleicht stellenweise im Privaten kaum noch für jemanden wichtig. Lyrik hat ihre gesellschaftliche Relevanz verloren und fristet ein Nischendasein. In fast jeder Buchhandlung findet man anspruchsvolle Literatur hinten links oder rechts in der Ecke. Wenn man Glück hat, gibt es in dieser Ecke ein kleines Regal mit Lyrikbändchen, was aber nicht selbstverständlich ist. In diesem möglicherweise vorhandenen Regal gibt es neben dickleibigen Sammelbänden der Marke „Lyrik aus 1.000 Jahren“ und einigen wenigen Bänden kanonisierter Lyriker wie Herrmann Hesse, Bertolt Brecht oder Hilde Domin kaum aktuelle Lyrik. Will man die lesen, guckt man lieber ins Internet oder hin- und wieder in eine Literaturzeitschrift wie das Schreibheft.
Das betriebswirtschaftliche Gewicht der Lyrik? Gleich Null!
Warum ist das auf der Buchhandelsebene so? Weil man mit Lyrik in der Regel kein Geld verdienen kann. Es gibt kaum Lyrik-Bestseller, Lyrikbände nehmen vielmehr den Büchern den Platz weg, mit dem man wirklich Umsatz machen kann. So setzt sich der negativ-kapitalistische Weg fort bis hin zu den Verlagen. Ein reiner Lyrikverlag ist praktisch betriebswirtschaftlicher Selbstmord. Ehrenwerte Verlage, die das trotzdem tun, sponsorn solche Projekte durch Querfinanzierung: Erfolgreiche andere Bücher des Verlagsprogramms werfen Gewinn ab und ermöglichen es, Zuschußprojekte wie Lyrikbände zu realisieren. Verlage, die mit Lyrik trotzdem erfolgreich sind, publizieren entweder klassische Gedichte, die zu Alltime-Sellern wurden, wie die von Rainer-Maria Rilke, Erich Kästner, Gottfried Benn oder Erich Fried oder senken das lyrische Niveau – das heißt: publizieren massenkompatible Lyrik, die mit Qualität, Anspruch und Tiefgang rein gar nichts mehr zu tun hat.
Es gibt auch Gegenbeispiele:
Der von uns bereits gelobte Verlag 2001, der seine Bücher über den Versand, eigene Läden und inzwischen über ein Shop-in-Shop-System innerhalb der Filialen einer großen Buchhandelskette vertreibt, hat Bestseller im Lyrikbereich vorzuweisen. Er hat lange Jahre die Gedichte von Wolf Wondraschek oder Charles Bukowski publiziert. „Sex Sells“ könnte man da sagen oder im Falle von Bukowski die Frage stellen „Wo ist das Niveau?“. Jedenfalls hat der 2001-Verlag es auch andernorts mit Publikationen wie dem Gesamtwerk von Robert Gernhardt vorgemacht, dass man Lyrik für ein anspruchsvolles Publikum publizieren und vermarkten kann. Andere Fälle der „normalen“ Verlagsszene wie das Buch „Fieber“, mit den nachgelassenen Gedichten Klaus Kinskis, profitieren vom medial durchdrungenen Image des Autors und können so eine kleine Medienkampagne für sich verbuchen, um den Gehalt der Lyrik medienkompatibel zu steigern. Ein bekannter Name verkauft gut, auch wenn er gar kein Lyriker ist.
Das Buch als Ware, der Lyriker als Produzent
Der normale, nicht ans Marketing gewöhnte Lyriker mit ernstem Anspruch, originellem Sprachbild und mächtigem Sprachumfang hat innerhalb der Literaturszene die geringsten Aussichten auf Erfolg. Wobei man ja an dieser Stelle darauf hinzuweisen hat, dass Kurzformen jeder Art sich generell schlechter verkaufen als Romane: Die Kurzgeschichte – sofern nicht Nebenwerk eines berühmten Autors oder ausnahmsweise genialisch-kompakte Lebensäußerung eines Solitärs wie Alice Munro – führt ein Nischendasein, ebenso mitunter Erzählungen oder Novellen. Auch hier ist der Grund in der Vermarktbarkeit zu finden: Der Leser will viel Buch fürs Geld. Ein kurzes Roman-Manuskript wird gerne mal mit größerer Schrift, größerem Zeilenabstand und voluminöserem Papier aufgebläht, damit die paar Seiten nach etwas Mehr aussehen und der Käufer nicht den Eindruck gewinnt, der Buchhändler wolle ihn über den Tisch ziehen.
Lyrik – Sprachmüll und Leerformeln am laufenden Band
Sind Gedichte „die dichteste, anspruchvollste und subjektivste Art […], Sprache zu gestalten?“ Richtig ist: Aufgrund der Kürze dieser literarischen Gattung muß sie von Haus aus kompakt sein, Werke wie Mellvilles Roman „Clarel“ in Versform bleiben die Ausnahme. Und Lyrik vermag auf knappem Raum viel auszudrücken: Wer zum Beispiel nichts über Surrealismus weiß, aber viel darüber erfahren möchte, schnappt sich das Buch „Das surrealistische Gedicht“ und erfährt in dieser umfangreichen Ansammlung lyrischer Sprachbilder einiges über den Surrealismus – in bereits wenigen Zeilen vielleicht mehr, als läse er lange Werke der Sekundärliteratur zum Thema.
Gedichte als Seelen-Mülleimer
Sind Gedichte aber auch per se anspruchsvoll? Weit gefehlt! Da sie so kurz sind, laden sie niederschwellig praktisch jeden ein, sein Seelenleben in ein paar Zeilen zu offenbaren. Keine andere literarische Gattung kann in einer reduzierten Form zwar so viel erreichen und offenbaren wie die Lyrik, aber in keiner anderen literarischen Form wimmelt es nur so vor Betroffenheit, unreflektiertem Liebesleid, Kitsch und Gefühlsduselei, die maximal eine andere Person, der das Gedicht gewidmet sein mag, in einer bestimmten Lebenssituation ertragen kann. Bei der Lyrik sind Form und Inhalt oder Handwerk und Kunst aufs Engste miteinander verwoben. Jedes Wort, ja, jede Silbe, zählt und muß sitzen. Deshalb ist das künstlerische Scheitern wahrscheinlicher als bei anderen literarischen Gattungen.
Kurz und knapp oder kurz und schlecht?
Lyrik kann also anspruchsvoll sein, weil es äußerst schwierig ist, etwas in ein paar Sätzen auszudrücken und sich hier die Meisterschaft beweisen muß – sie ist es aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht. Dafür sind zu viele Autoren, die sich der Lyrik verschrieben haben, tendenziell zu selbstverliebt und unbegabt. Denn das Formal-Handwerkliche, der Rhythmus, der punktgenau mit dem Inhalt korrespondieren muß, stellen höchste Anforderungen an inhaltliche Durchdringung und Formulierkunst. Zu leicht ist hier ein Versagen möglich. Hier also, irrte der Bundespräsident bzw. sein Redenschreiber eklatant.
Lyrik als Nebenbeschäftigung
Noch eine andere Falle gibt es, in die ein Autor tappen kann: Wer denkt, Lyrik „nebenbei“ schreiben zu können, irrt in den meisten aller Fälle. Ein Romanautor wie Günter Grass zu sein, der es gewohnt ist, komplexe Inhalte in seinen Romanen in der Breite zu entwickeln, wird Schwierigkeiten haben, sich gekonnt komprimiert zu äußern. Wer sich der Lyrik widmet, tritt sozusagen eine Reise in eine andere Dimension an, in der alles kleiner und sowieso ganz anders ist als in der epischen Dimension. Dort, in der anderen Dimension, muß er lange verweilen, sonst kann er den veränderten Naturgesetzen keine Rechnung tragen. Und welcher Autor von Belang entscheidet sich heute für L,yrik, die kaum einer zur Kenntnis nimmt, und gegen den Roman, der im Zweifelsfall eher Aufmerksamkeit, Renomee und Geld verheißt?
Lyrik als Widerstand gegen den Sprachmüll?
Aus dem Vorhergesagten folgt fast unweigerlich der Schluß, dass durch so viel Unvermögen beim Formulieren von Gedichten, zwangsläufig auch viel Sprachmüll erzeugt wird. Horst Köhler hat insofern Recht, dass die Kürze der Form uns Glückseeligkeit verheißt, müssen wir doch im Falle der Lyrik Schwachsinn nur relativ kurz ertragen im Gegensatz zur langen Reizung unseres Geduldsfadens durch die meisten Romane. Samuel Beckett hat anlässlich eines Besuches seines deutschen Verlegers Siegfried Unseld gesagt, er sitze seit Tagen an einer Zeile und werde einfach nicht fertig damit. Das spricht Bände und könnte zum Vorbild gereichen.
Weniger Informationen, mehr Wirkung?
Auch Literatur-Besser-Wisser Reich-Ranicki äzt zuweilen völlig zu Recht gegen Weitschweifigkeit und das Unvermögen vieler Autoren, auf kleinem Raum überhaupt etwas aussagen zu können. A propos Reich-Ranicki: Wer sich in die traditionelle Ästhetik des Gedichts einarbeiten will, dem sei nach wie vor die Samstagsausgabe der F.A.Z. mit ihrer jeweiligen Folge der „Frankfurter Anthologie“ ans Herz gelegt oder die entsprechende Jahres-Buchausgabe als Sammelband dieser Gedichtrezensionen und -interpretationen. Leider sind manche Buchausgaben längst vergriffen.
Sprachbilder als Ventil
Die Lyrik, die im Alltag unserer Gesellschaft produziert wird, ist aber meist gar nicht von diesem beckettschen Ringen um den richtigen Reflexionswinkel durchdrungen. Sie wird zunächst rein privat als Sprachventil in Krisensituationen genutzt, meist von Laien ohne ästhetischen Anspruch, hat aber andererseits immer mehr Einzug gefunden in populäre Formen wie Songtexte oder Werbung oder dient innerhalb eines Romans, als Konzeptabkupferung der Brechtschen Dramen mit Einschubfunktion – als kleines sprachliches Schmankerl, das die vermeintlich genialischen Variationsmöglichkeiten des Autors illustrieren soll. Oftmals ist die Lyrik dabei also ihres eigentlichen subjektivistischen, funktionalen Kerns der direkten Triebabfuhr entledigt. Wieder ein Nachteil, der – wie wir alle seit langem wissen – mit Verblödung und Kommerzialisierung eben zwangsläufig einhergeht.
Die schlechteste Lyrik der Welt
Kurz: Die meiste Lyrik, die uns so begegnet, ist fein ziselierter und damit besonders verwerflicher Sprachmüll, den man zwar schnell durchgelesen hat, den ich persönlich aber als widerwärtig empfinde, weil die meisten Lyriker für sich einen hohen Anspruch formulieren, ihn oft aber gar nicht einzulösen vermögen. (Siehe hierzu als Beweis die schlechten Gedichte auf www.endoplast.de).
Ein Schulterklopfen für den Bundespräsidenten
Rufen wir unserem Bundespräsidenten also zu: Eine Festrede mehr, die im Grunde zwar einem guten Zweck verpflichtet war aber bezüglich der zitierten Passage am eigentlichen Inhalt vorbeiging. Deshalb konnten meine Tränen, die ich mich nicht zurückhalten konnte beim Lesen dieser Rede zu vergießen, nicht Sproß meiner Freude sein sondern einer tiefsitzenden Trauer um den vom Bundespräsidenten offenbar unbemerkten Niedergang einer literarischen Form. Das ist so, als stünde man vor einem offenen Grab, könnte vielleicht den Toten sogar noch erblicken oder ihn zumindest konkret erahnen und würde lachen anstatt zu heulen. Also ist wieder ein Versuch gescheitert, das Ableben der Lyrik konstruktiv zu beklagen.
2 Responses to “Lyrik: Horst Köhler und die Kunst der kleinen Form”
[…] Lyrikwebsite “Lyrikline.org“. Wir haben dazu einen Artikel publiziert, den man hier nachlesen kann. […]
[…] Dennoch, dieser Singsang, dieser immer gleiche Slogan, klingt wie die letzte Zeile eines Gedichtes. Oder wie der Refrain eines Liedes. Er prägt sich ein und scheint so weit weg zu sein vom […]